Eine verrückte Zeit
Im Januar 2020 hören wir zum ersten Mal in den Nachrichten vom Ausbruch
eines neuartigen Virus in China. In den ersten Tagen nehmen wir es zur
Kenntnis, beschäftigen uns aber nicht eingehender damit.
Doch es kommen immer mehr Meldungen aus China: man liest und hört verstärkt
„Covid-19“. Ich setze mich an den Computer und beginne zu recherchieren.
Schon nach kurzer Zeit bin ich besorgt: „Covid-19“ - oder „Corona“- ist ein
Virus der Grippeähnliche Symptome mit hohem Fieber hervorrufen kann und die
Lungen befällt. In China gibt es mittlerweile eine Menge Tote: Menschen mit
schwachem Immunsystem scheinen an Corona zu sterben.
MOPD Typ1 geht einher mit einem schwachen Immunsystem – und Problemen mit
der Lunge (auch wenn wir DIE bei Jonathan bis heute zum Glück nicht hatten!).
Alle von MOPD Typ1 Betroffenen sterben an Infekten: am häufigsten an
Schnupfen/Husten/Fieber o.ä.
Mein Mann und ich beginnen die Nachrichten intensiver zu verfolgen. Wir
sind sicher das Corona für Jonathan immens gefährlich ist – und wir sind uns
ebenfalls sicher dass es nur eine Frage der Zeit ist bis dieser Virus bei uns
in Deutschland ankommt.
Im Februar rückt unsere Besorgnis erst einmal in den Hintergrund weil wir
mit Lotta das erste betroffene Kind aus Deutschland verlieren.
Sie stirbt….an der Grippe.
Die Medien melden den ersten Corona-Fall in Deutschland: in Bayern.
Wir leben in Hessen. Wir sind noch nicht „in Gefahr“: aber der Virus ist
da. Er ist in Deutschland angekommen.
Und mir geht nicht mehr aus dem Kopf das er Grippesymptome verursacht….Grippe….daran
ist Lotta gestorben.
Wir verfolgen die Nachrichten sehr intensiv, achten noch mehr als sonst
aufs Hände waschen und bestellen uns ein paar Flaschen Desinfektionsmittel -
denn unseres geht zur Neige.
Da Winter ist gehen wir sowieso mit Jonathan nicht in den Supermarkt, in
Restaurants oder auf Veranstaltungen. In diesen Punkten müssen wir uns also
nicht umstellen.
Ich überlege schon was wir tun können…welche Maßnahmen wir ergreifen
müssen…wenn Covid-19 bei uns ankommt.
Und dann ist es so weit: es ist kurz nach Fasching. Der Virus ist zwar
nicht in Hessen aufgetaucht, aber in NRW. Und er verbreitet sich rasend
schnell: Betroffene waren, ohne zu wissen das sie erkrankt sind, auf
Faschingsveranstaltungen. Mit Hunderten anderer Menschen zusammen. Die
Inkubationszeit beträgt bis zu 12 Tage. Ich bin mir sicher das NRW den „Peak“,
die Spitze der Erkrankungen, noch nicht erreicht hat.
Es ist Donnerstag und Marvin ist auf Konfirmandenfreizeit. Er war die
komplette Woche noch nicht in der Schule. Zum Glück, denn er geht auf eine
Schule mit circa 1600 Schülern. Und ich gehe davon aus das einige Schüler…oder
ihre Geschwister…oder ihre Eltern…auf dem Fasching in NRW gewesen sind.
Ich fahre in die Apotheke und kaufe FFP-Masken….andere haben früher
vorgesorgt: es ist nicht einfach noch welche zu bekommen – ich fahre viel
herum, aber am Ende habe ich für jeden von uns 2 Masken. Das ist genug, man
kann sie ja eine Weile tragen.
Freitags macht mein Mann immer Homeoffice, er fährt also nicht ins Büro.
Ich sage ihm morgens das er mit seinem Chef reden muss: er muss in den
kommenden Wochen komplett ins Homeoffice. Es ist zu gefährlich in die Firma zu
fahren und mit 6000 Menschen zusammen in einem Gebäude zu sein – während die
Inkubationszeit von Fasching noch läuft.
Mein Mann schaut mich an und ich sehe was er denkt: „Die übertreibt total!“
8o)
Er sagt aber nur: „Was ist mit Marvin?“. Und ich sage das ich der Lehrerin
schon eine E-Mail geschrieben habe und mit dem Kinderarzt reden werde um Marvin
von der Schule freizustellen. Für mindestens zwei Wochen.
Jetzt schaut mein Mann mich an als wäre ich geistesgestört.
„Meinst Du das ist WIRKLICH alles nötig?“ fragt er mich. „JA!“ sage ich
voller Überzeugung. „Ok, ich rufe meinen Chef an!“ ..und der ist zum Glück
WIRKLICH entgegenkommend und stellt meinen Mann zuerst für zwei Wochen von der
Anwesenheit im Büro frei.
Und dann ruft auch Marvins Klassenlehrerin an.
Sie weiß über Jonathan Bescheid und ist gar nicht überrascht über meine
Bitte Marvin von der Schule freizustellen. Allerdings kann sie nur über einen
Zeitraum von 3 Tagen entscheiden (diese 3 Tage sagt sie mir sofort zu), ich
muss also mit dem Schulleiter reden.
Mittlerweile ist es Freitag Nachmittag, Marvin ist noch immer auf der
Konfirmandenfahrt. Er hat keine Ahnung was ich hier für ihn entscheide…und ich
bin mir sicher dass es ihm NICHT gefallen wird!!
Ich rufe im Sekretariat der Schule an und erkläre warum ich mit dem
Schulleiter reden möchte. Die Dame am Telefon ist etwas schnippisch,
offensichtlich findet sie das ich komplett hysterisch bin und übertreibe.
Sie fragt mich viele Sachen wie „Wie
wollen Sie das denn mit dem Einkaufen machen? Muss ihr Mann nicht ins Büro…oder
Sie? Ihnen ist bewusst das wir vielleicht über einen Zeitraum reden der länger
als zwei Wochen dauert?“…ich habe auf jede ihrer Fragen eine Antwort, ich habe
mir ja schließlich schon längere Zeit Gedanken dazu gemacht!
Die Antwort des Schulleiters ist jedenfalls eindeutig: er versteht mich und
stellt Marvin von der Schule frei - wenn ein Arzt bescheinigt das es notwendig
ist.
Marvin kommt heim, ich rede mit ihm.
Und wie ich vermutet habe ist er nicht begeistert. Er schimpft, sagt das er
nicht „eingesperrt“ werden will – dass er den Sinn dahinter nicht versteht. Er
zieht sich auf sein Zimmer zurück.
Am Wochenende beruhigen sich die Gemüter.
Ich schaue mit Marvin gemeinsam Nachrichten, wir lesen im Internet. Die
ersten Todeszahlen aus NRW werden bekannt gegeben.
Ich schreibe dem führenden Forscher im Bereich MPD eine E-Mail und bitte
ihn um seine Einschätzung. Seine Antwort ist eindeutig: Corona ist für Kinder
wie Jonathan LEBENSGEFÄHRLICH!
Marvin sagt das er versteht und es für ihn ok ist wenn er zu Hause bleibt.
Am Montag früh klingelt das Telefon. Unser Kinderarzt ist dran.
Er befürwortet es Marvin von der Schule freizustellen, denn auch er denkt
das Covid-19 für Jonathan EXTREM gefährlich werden kann.
Bis zu diesem Moment war ich ehrlich gesagt NICHT 100% sicher ob ich nicht
doch ein wenig zu viel Panik verbreite…..aber während dieses Telefonates habe
ich gemerkt das unser Kinderarzt sehr ernst und besorgt ist – und das ist er
sonst NIE.
Zuerst befreit er Marvin für eine Woche. Wir werden am Ende dieser Woche
wieder telefonieren und schauen wie sich die Lage entwickelt hat.
Ich sage alle Therapien ab.
Wir gehen in die Selbst-Isolation, teilen es Familie und Freunden mit. Ab
sofort darf uns keiner mehr besuchen.
Eine weitere betroffene deutsche Familie geht diesen Weg mit uns gemeinsam.
Die anderen Familien beobachten die Situation sehr genau.
Ab diesem Moment gehen wir nur noch mit Atemmaske einkaufen. Nur einmal in
der Woche und nur einer von uns, meist mein Mann. Der wird auch direkt dumm
angemacht im Supermarkt weil es „total übertrieben ist mit Maske einkaufen zu
gehen.“ Er ignoriert das. Wir machen das nicht für uns…wir machen das für unseren
Sohn!
Natürlich haben wir keine Ahnung ob es etwas bringt - oder ob es
übertrieben ist. Aber wir wollen einfach sagen können: „Wir haben alles
versucht um Jonathan zu schützen!“
In der kommenden Woche steigen die Todeszahlen in NRW. Immer mehr Menschen
sind infiziert.
Erste Fälle in unserem Landkreis werden bekannt.
Mein Mann kann seine Arbeit zu 100% im Homeoffice erledigen, Marvin wird
mit den Hausaufgaben versorgt. Wir „grooven“ uns in unserem neuen Alltag ein:
stehen morgens trotzdem früh auf, Marvin macht vormittags Schularbeiten und
lernt, dann steht 1 Stunde Hausarbeit auf dem Plan (wahlweise er oder ich – der
andere passt auf Joni auf), wir kochen und essen gemeinsam.
Marvin ist eine zweite Woche vom Kinderarzt von der Schule befreit.
Wir genießen die gemeinsame Zeit: mein Mann spart jeden Tag zwei Stunden Arbeitsweg.
Zeit die wir nun sinnvoller nutzen…das Haus fängt an zu blinken und zu blitzen.
Wir erledigen Dinge die wir schon ewig vor uns herschieben – ein gutes Gefühl!
Die Zahl der Corona-Toten steigt.
Die Menschen beginnen zu hamstern: Nudeln, Konserven, Mehl und vor allem…Klopapier
sind in den Supermärkten kaum bis gar nicht mehr zu bekommen. Es gibt jetzt
Mengenbeschränkungen der Artikel die man kaufen darf und ich ….. beginne fast
das erste Mal in meinem Leben in einem Supermarkt zu weinen als ich nur ZWEI Packungen
Windeln kaufen darf – obwohl ich schon IMMER vier Packungen kaufe.
Zudem erlebe ich live mit wie RENTNER sich fast prügeln und durch die
Gegend schubsen…nur um eine Packung Klopapier zu ergattern.
Die Welt steht Kopf und ich habe Angst: wohin wird das noch führen? Welche Charaktereigenschaften
der Bevölkerung werden in den kommenden Wochen noch ans Licht kommen?
Immer wieder habe ich Szenen aus „The Walking Dead“ im Kopf.
Der Kinderarzt befreit Marvin für eine weitere Woche von der Schule und unsere
Hessische Landesregierung kündigt eine Pressekonferenz an.
Der LOCKDOWN in Deutschland wird verkündet.
ICH finde….das hätte schon ein oder zwei Wochen vorher beschlossen werden
sollen! Denn so konnte sich das Virus nach Fasching zu stark verbreiten.
ABER… es ist trotzdem gut dass JETZT die Reißleine gezogen wird. GUT für
Risikopatienten wie Jonathan. Gut auch für Marvin, denn er ist nun nicht mehr der
„Außenseiter“ der Klasse! Ab sofort sind alle zu Hause und bekommen „Homeschooling“.
Mein Mann geht auf unbefristete Zeit ins Homeoffice.
Die Schule erklärt uns per E-Mail wie das Homeschooling aussehen wird.
Ich habe den Eindruck das die meisten Menschen jetzt den Ernst der Lage verstanden haben.
Geschäfte schließen. Therapeuten machen ihre Praxen dicht. Wir erhalten
Anrufe von Ärzten das Termine verlegt/abgesagt werden müssen. Marvin und ich haben
Karten für eine Lesung, sein Weihnachtsgeschenk: aber auch diese wird abgesagt.
Weitere betroffene deutsche Familien folgen in die Isolation.
Im Drogeriemarkt sind jetzt circa 70% der Menschen mit Gesichtsmasken
unterwegs. Im Supermarkt tragen viele zusätzlich Handschuhe. Niemand macht uns
mehr „dumm“ an nur weil wir Maske tragen.
Im Nachbarort werden die ersten Corona-Fälle bestätigt. Es ist der Ort in
dem wir immer einkaufen gehen.
Ich beginne mich zu Hause wesentlich sicherer zu fühlen als „draußen“. Ausgerechnet
jetzt hat Jonathan einen Termin beim Kinderarzt zur Blutentnahme und Impfung.
Ein Termin den ich nicht verschieben kann, er ist zu wichtig.
Die Praxis hat nun einen Spuckschutz am Empfang, alle tragen Mundschutz und
Handschuhe. Als wir fertig sind werde ich durch den Garten „geschleust“ damit
Jonathan nicht noch einmal durch die Praxis muss. Unser Kinderarzt ist weiterhin
besorgt und empfindet die Lage als ernst.
Freunde und Bekannte beginnen mich bei Facebook aufzuregen. Ständig liest
man Sachen wie „Corona ist nicht gefährlicher als die Grippe“, „Die Regierung
versucht nur etwas zu vertuschen!“ oder „Mich interessiert das alles nicht, ich
mache einfach weiter wie immer: bin ja kein Risikopatient.“ Ich „entfreunde“
einige Menschen, habe keine Lust mich mit solch hirnlosen Gedanken auseinanderzusetzen.
In Italien und Spanien beginnt die Lage zu eskalieren. Tote werden mit
Gabelstaplern abtransportiert und in Massengräbern beerdigt.
Wenn ich die Nachrichten einschalte denke ich das ist ein Film!!! Ist es
aber leider nicht. Es ist die Realität. Und noch immer gibt es Menschen die
Covid-19 nicht ernst nehmen.
Das Homeschooling läuft „ok“. Es ist nicht dasselbe wie Unterricht,
natürlich kann via Internet/Chat nicht so viel Stoff erarbeitet werden wie im
Klassenraum. Marvin macht es aber trotzdem Spaß und er lernt sehr viel außerhalb
der Unterrichtszeiten.
Der Klavierunterricht findet via Skype statt. Wir freuen uns in der
heutigen Zeit zu leben wo so etwas überhaupt technisch möglich ist!
Ich beginne mit Freundinnen zu skypen. Habe ich vorher noch nie gemacht.
Aber man muss das Beste aus der Situation machen.
Und das versuchen auch wir als Familie!
Wir versuchen unsere gute Laune zu behalten….versuchen uns von den
Tragödien die sich in unserem Land und den Nachbarländern abspielen nicht
runter ziehen zu lassen. Versuchen das Positive an der Situation zu sehen: sowohl
in unserem Haus als auch in unserem Garten konnten wir schon viel erledigen.
Alles ist ordentlich, schön und sauber. Ein paar Dinge stehen noch auf der „To-Do-Liste“,
mein Mann möchte nicht alles auf einmal erledigen „Damit wir auch in der
kommenden Zeit noch was zu tun haben!“.
Außerdem haben wir so viel Zeit als Familie wie noch nie. Keine Termine,
kein Streß, keine Hektik. Wir sind komplett entschleunigt.
Ja: wir finden Corona hat auch seine guten Seiten!!!
Dann steht Ostern vor der Tür. Das erste Ostern das wir nicht mit unserer
Familie werden feiern können.
Zum ersten Mal macht mir die Isolation zu schaffen. Ich bin traurig.
Lottas Familie hatte eine geniale Idee und wir „klauen“ sie:
Unser Esszimmerfenster geht auf den circa 4 Meter breiten Hof hinaus. Wir
stellen Stühle und einen Sonnenschirm auf und schicken Familie und Freunden Fotos
davon. Wir laden sie ein unser „Fenster zum Hof“ zu besuchen, versprechen Getränke
und persönliche Gespräche. 8o)
Und so Viele kommen!!
An Ostern dann zum Glück auch unsere Eltern. Wir „feiern“ zwar anders:
essen nichts zusammen und sehen uns nur aus 4 Meter Entfernung…aber wir sehen
uns LIVE und reden miteinander. Es ist das Beste was wir in dieser Situation
tun können, wir fühlen uns nicht mehr ganz so isoliert.
Heute ist Tag 48 unserer Isolation.
Die Nerven liegen bei uns allen etwas blank. Es gibt häufiger als sonst Streit
und wir alle werden viel schneller laut als gewöhnlich.
Sauer ist dann aber keiner auf den anderen. Wir wissen ja warum das alles
momentan so ist. Wir sitzen alle im selben Boot. Und müssen noch etwas
durchhalten.
In vier Tagen hat Jonathan Geburtstag. Er wird 5 Jahre alt.
Wir hätten nie gedacht das wir diesen Tag mal erleben! Wir hätten aber auch
nie gedacht ihn unter solchen Umständen begehen zu müssen. Ohne Familie.
Aber….wie schon immer in unserem Leben mit Joni werden wir den Kopf nicht
in den Sand stecken! Wir werden versuchen das Beste aus der Situation zu machen
und dem kleinen Mann einen möglichst schönen Tag zu bereiten.