Osteopathie
Ungefähr
zu dieser Zeit sind wir zum ersten Mal zur Osteopathie gegangen. Die
Physiotherapeutin hatte uns den Vorschlag gemacht das mal auszuprobieren denn
Jonathans Kopf war (durch den langen Krankenhausaufenthalt und die damit
verbundene Lagerung) am Hinterkopf wirklich extrem platt.
Ich hatte
gar keine Vorstellung davon was Osteopathie überhaupt ist, damit hatte ich noch
nie Berührungspunkte gehabt.
Wir haben
also übers Internet eine Praxis in unserer Nähe herausgesucht die auch auf
Kinder spezialisiert ist und einen Termin vereinbart. Dann sind mein Mann und
ich zum ersten Mal mit Jonathan hingefahren und waren sehr gespannt was uns
erwarten würde!!!
Allein
das Gebäude in dem die Praxis untergebracht ist war schon sehenswert: es
handelt sich um ein Gebäude aus dem späten Mittelalter das auf einem Berg
gelegen ist. Man hatte einen traumhaften Blick über die ganze Stadt und befand
sich zudem mitten im Wald. Okay: die Anfahrt war abenteuerlich…ich glaube so
eine steile Straße bin ich in Deutschland noch nie hoch gefahren und ich machte
mir schon ein bisschen Sorgen wie ich überhaupt herkommen sollte wenn Winter
war? (Sie erinnern sich: bei uns gibt es immer viel Schnee!) Zur Not müsste ich
halt laufen – aber dann vermutlich schon eine Stunde vor dem Termin hier sein,
denn so lange würde ICH mindestens brauchen um DIESEN Berg zu bewältigen!!
Wir
klingelten und wurden von einer sympathischen Dame empfangen die uns bat noch
einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen.
Was ich
als erstes in dieser Praxis wahrgenommen habe war die Ruhe die dort herrscht.
Und damit meine ich nicht nur Ruhe im wörtlichen Sinn das es keine lauten
Geräusche gab, sondern auch das die Atmosphäre hier einfach Ruhe vermittelt:
die Lichter, die Einrichtung…das alles lädt in dieser Praxis zum „runter kommen und entspannen“ ein.
Auf dem
Tisch im Wartezimmer lag ein Buch: „Osteopathie: sanftes Heilen mit den
Händen“…okay?? Hörte sich toll an! Sanft war schon mal gut: dann würde Jonathan
hoffentlich nicht so arg heulen wie bei der Physiotherapie!
Wir
wurden ins Sprechzimmer geholt und haben uns erst einmal mit unserer
Therapeutin unterhalten: die Krankengeschichte, die Vorgeschichte, die
vermutliche Diagnose MOPD I. Alles wieder von Anfang…aber ok: musste ja sein,
sie musste ja wissen was los war.
Sie bat
uns mit Jonathan ins Behandlungszimmer zu kommen. Eine Liege mit Armlehnen
stand dort und sie war komplett bedeckt mit Handtüchern, teilweise zu Rollen
geformt um Kopf und Arme abzulegen: SEHR gemütlich! Ich hätte in diesem Moment
gern mit Jonathan getauscht! 8o))
Mein Mann
und ich legten Jonathan auf der Liege ab und setzten uns auf die
bereitstehenden Stühle. Unser Baby wirkte total klein und verloren auf dieser
riesigen Liege…aber gut: solche Eindrücke würden wir noch öfter in unserem
Leben mit ihm erfahren!!
Und dann
begann die Behandlung. Für MICH sah es aus als würde die Therapeutin nur ihre
Hände auf meinen Sohn legen. Auf die Beine, die Arme, den Rumpf und auch auf/um
den Kopf. Mehr konnte ich als Laie nicht erkennen. Trotzdem entspannte Jonathan
sich dermaßen das er nach wenigen Minuten eingeschlafen war!! Faszinierend!! Was
für ein Unterschied zur Physiotherapie – ging mir direkt durch den Kopf. Zur
Osteopathie zu kommen würde mir von daher nicht schwer fallen! 8o))
Heute
sind fast 2 Jahre vergangen und wir sind weiterhin dort in Behandlung. Eine
Therapie die ich früher nicht kannte und heute in den höchsten Tönen loben
möchte:
Jonathans
platter Hinterkopf hat sich wunderschön geformt! Die früher sehr eng
aufeinanderliegenden Schädelplatten haben sich gedehnt. Seine
Beinfehlstellungen/X-Beine sind schon deutlich besser geworden, die Therapeutin
arbeitet weiter unermüdlich daran und ich bin überzeugt dass wir noch sehr viel
bessere Ergebnisse erzielen werden.
Mittlerweile
habe ich sogar zwei Freundinnen mit unterschiedlichen gesundheitlichen
Problemen die Osteopathie als solches empfohlen und BEIDE sind mehr als
begeistert und schon nach wenigen Sitzungen ihre Probleme losgeworden!
Was ich
an unserer Therapeutin sehr schätze ist die Tatsache dass sie ehrlich auf die
Gesundheit von Jonathan bedacht ist. Termine haben wir nur circa alle 6 Wochen
weil sie sagt dass es öfter nicht sinnvoll ist. In einer Phase in der Jonathan
bei der Osteopathie sehr viel geweint hat teilte die Therapeutin mir ihre
Überlegung mit die Therapie vielleicht zu unterbrechen da „Jonathan am Ende
übertherapiert ist und eine Pause braucht“.
Mal
ehrlich: welcher Therapeut in der heutigen Zeit, in der jeder nur auf den
eigenen Profit und den eigenen Verdienst zu schielen scheint würde von sich aus
weniger Behandlung oder sogar eine Pause vorschlagen??? Eben! Und genau
deswegen weiß ich dass ich hier an der richtigen Adresse bin! Denn hier steht
mein Sohn und seine Gesundheit im Vordergrund und nicht das Bankkonto!!
Der
1.Weihnachtsmarktbesuch
Jeder der
Kinder hat weiß wie schön die Vorweihnachtszeit sein kann! Man wird selbst
wieder ein bisschen Kind und von dem „Zauber der Weihnacht“ erfasst – naja,
jedenfalls geht es mir so seit Marvin da ist. Weihnachten mit Kind ist für mich
viel schöner als ohne Kind: ich LIEBE Weihnachten!!!
Wir lesen
Weihnachtsbücher…wir basteln…wir backen. Wir dekorieren die ganze Wohnung (es
sieht dann immer ein bisschen so aus wie ich mir Weihnachtsdeko in Amerika
vorstelle!). Da wir das große Glück haben in einer Region in Deutschland zu
leben in der es doch recht regelmäßig schneit machen wir auch Schneeballschlachten
und bauen Schneemänner. Und wir fahren auf Weihnachtsmärkte.
Diese
erste Weihnachtszeit mit Jonathan verbrachte ich noch glücklicher als in den
Jahren zuvor: bei Marvin war der Mythos Weihnachten mittlerweile „enttarnt“, er
glaubte nicht mehr an den Weihnachtsmann. Aber jetzt war Jonathan da und wir
konnten noch mal ganz von vorn beginnen mit all diesem Zauber. Obwohl Marvin
mir (bis heute übrigens!) vorwirft das ich ihn „belogen“ habe was den
Weihnachtsmann betrifft hilft er trotzdem tatkräftig mit diesen Zauber für
Jonathan aufrecht zu erhalten. 8o))
Da
Jonathans Immunsystem ja nicht das Beste ist und die Vorweihnachtszeit auch
gern von Infekten begleitet wird haben wir beschlossen nur auf einen einzigen
Weihnachtsmarkt zu fahren – um den kleinen Mann keinem zu großen Risiko
auszusetzen. Wir haben uns einen doch recht milden Tag ohne Regen und Schnee
ausgesucht und sind losgefahren. Waren total aufgedreht und aufgekratzt! Der
erste Weihnachtsmarkt zu viert! So viele Lichter, Gerüche und Geräusche die wir
Jonathan zeigen konnten.
Er war zu
diesem Zeitpunkt circa 40cm groß, also weitaus kleiner als jedes Baby das man
sonst so auf der Straße sehen kann. Das muss ich der Fairness halber an dieser
Stelle erwähnen! Denn was wir an diesem Tag erlebt haben ist wirklich jenseits
der Schmerzgrenze.
Ich habe
lange überlegt ob ich in meinem Blog überhaupt über so etwas reden soll. Denn
ich räume Menschen dadurch hier einen Platz und eine Wichtigkeit ein die sie in
meinen Augen nicht verdient haben. Dennoch habe ich mich entschieden es zu
erzählen: um wach zu rütteln!! Und jeden der das liest dazu zu bringen über
sein Handeln und seine Aussagen GUT nachzudenken.
Der
Weihnachtsmarkt war sehr gut besucht. Als wir ankamen hat Jonathan in seinem
Kinderwagen geschlafen und wir haben uns zuerst die Stände ein wenig
angeschaut. Doch irgendwann wurde er wach und wir haben ihn auf den Arm
genommen. Ihm die Flasche gegeben. Und dann bin ich mit ihm über den Platz
gelaufen um ihm die Stände und die Lichter zu zeigen.
Was soll
ich sagen? Ich konnte keine DREI METER (ich schwöre!) laufen ohne dass jemand
auf mich zu kam um ihn ANZUFASSEN!!! Meist waren es ältere Damen die ihn
erblickt haben und dann sagten „O, ist der süß!“ und ihn betatschten – am Kopf,
an der Backe, an der Nase. In zwei Stunden in denen er auf meinem Arm war ist
mir das sicherlich ohne zu übertreiben 40 Mal passiert. Und ich frage mich:
WARUM MACHEN DIESE MENSCHEN DAS? WAS WÜRDEN SIE DAZU SAGEN WENN ICH IHNEN
EINFACH INS GESICHT FASSEN WÜRDE?? FÄNDEN SIE BESTIMMT NICHT SCHÖN! ALSO WARUM
TUN SIE MEINEM SOHN DAS DANN AN? Konnten wir nicht einfach unsere Ruhe hier
haben?? Ich war genervt – und Marvin auch. Als dann die gefühlt 100ste Oma kam
die die Hand nach Jonathan ausstreckte sagte Marvin schlagfertig und ziemlich
streng: „Nicht anfassen, der beißt!“ Den Blick der Oma werde ich nie vergessen.
Sorry: aber es war die einzig richtige Reaktion von Marvin! Finger weg von
fremden Babys! Die haben nämlich auch eine Privatsphäre!
Aber es
kam noch schlimmer. Am Glühweinstand. Ein junger Mann kam auf mich zu und sagte
wortwörtlich: „Entschuldigung. Aber wo ist da das Batteriefach? Das ist doch
kein echtes Baby!“ Nein, Sie haben sich nicht verlesen: genau das hat er
gesagt…ohne Worte, oder??? Ich habe es mit einem Becher Glühwein zu viel
entschuldigt. Aber Sie merken auch: ich habe das seit damals nicht vergessen!
Solche Kommentare tun weh. Mein Baby ist kein DING: es hat keine BATTERIEN. Es
ist ein Mensch und ich liebe es!!!
Nach zwei
Stunden hatten wir keine Kraft mehr die Blicke der Leute auszuhalten, das
Betatschen abzuwehren oder die dummen Kommentare wegzustecken: wir legten
Jonathan in seinen Wagen.
Leider
hatten zwei ältere Damen vorher noch einen Blick auf ihn erhascht und kamen zu
uns. Beugten sich über den Wagen und schauten hinein „Ach, ist der süß!“. Eine
dritte ältere Dame die nicht dazu gehörte dachte wohl es gebe etwas umsonst und
kam auch dazu. Nun hingen also drei Frauen mit ihren Köpfen über dem
Kinderwagen und stierten Jonathan an. Der fing an zu weinen. Worauf eine Dame
sagte: „Ach Gott, was hat er denn auf einmal?“…ich konnte es mir nicht
verkneifen zu sagen: „Was würden Sie machen wenn drei Ihnen völlig fremde
Gesichter über Ihnen hingen und sie anstarren würden?“ Daraufhin löste sich die
Kleingruppe ziemlich schnell auf.
An diesem
Tag auf dem Weihnachtsmarkt ist uns bewusst geworden das die Reaktion der
Kellnerin beim Geburtstagsessen meines Mannes keine Ausnahme war: wir stehen
wirklich IMMER im Mittelpunkt und werden angestarrt. Die Schwestern auf der
Frühchenstation hatten uns das prophezeit, aber man kann sich das gar nicht
richtig vorstellen bis man es erlebt.
Um mal
kurz abzuschweifen…eine weitere Geschichte die mich wirklich sehr getroffen
hat.
Ich war
im Supermarkt einkaufen und wurde von einem Mann mittleren Alters angesprochen:
„Och, wie alt ist denn das Kleine?“, und ich sagte frei heraus: „Er ist 7 Monate.
Er ist kleinwüchsig, deswegen ist er so winzig.“ Woraufhin der Mann mich von
oben bis unten musterte und dann sagte: „Na, da werden Sie in der
Schwangerschaft wohl Drogen genommen oder gesoffen haben – sonst wäre SOWAS ja
nicht passiert!“
Noch
heute fehlen mir die Worte und mir stehen Tränen in den Augen wenn ich das
erzähle. Jonathan hat einen Gendefekt, seine Krankheit hat ganz andere
Ursachen. Aber davon mal abgesehen: wie kann man einer Mutter so etwas ins
Gesicht sagen??? Was ist das für ein Miteinander, wo ist der Respekt für den
anderen???
Zugegeben:
SOLCHE Kommentare sind die Ausnahme. Die meisten Leute die uns ansprechen tun
dies weil sie Jonathan süß finden oder ihnen auffällt das er viel kleiner ist
als seine Gesichtszüge vermuten lassen. Die meisten Leute sind wirklich nett
und verständnisvoll. Doch die wenigen die solche dummen Kommentare abgeben –
die bleiben im Gedächtnis, weil sie einem wehtun. Und ich gebe zu das es Tage
gibt an denen ich absichtlich nicht unter Menschen gehe weil ich keine Kraft
habe mich den Blicken auszusetzen oder Angst vor dummen Sprüchen habe. Und
eigentlich…ist das total blöd! Warum sollte ICH mich verstecken?? Ich habe ja
nichts verbrochen!!
Über die
Zeit habe ich festgestellt das Behinderungen in unserer Gesellschaft immer noch
nicht salonfähig sind, so liberal wir auch immer tun! Kommt ein Kind im
Rollstuhl oder ein Kind das anders aussieht: wird geglotzt. Und das nicht immer
unauffällig!! Nein, mitunter drehen sich Menschen in Lokalen auf ihren Stühlen
komplett zu uns um und starren minutenlang. Kein schönes Gefühl!
Wir haben
unsere eigene Art entwickelt mit dem allen umzugehen. Man merkt es ja: ich bin
nicht auf den Mund gefallen. Und vielleicht ist das auch genau gut so in meiner
Situation! 8o)
Stelle ich
fest das jemand unangemessen starrt gehe ich zu ihm und sage ihm das Jonathan
kleinwüchsig ist und deswegen so anders aussieht.
Merke ich
das jemand in meiner Nähe zu tuscheln anfängt gehe ich hin und frage ob er
irgendetwas von mir wissen möchte?? Denn er könne mich das auch einfach so
fragen und müsse das nicht hinter vorgehaltener Hand tun!
Tatscht
jemand Jonathan an…tatsche ich die Person genau an derselben Stelle an! Okay:
das kostet beim ersten Mal ein wenig Überwindung! Aber die Blicke sind
unbezahlbar und ich amüsiere mich jedes Mal aufs Neue darüber!! Ehrlich: wenn
jemand mein Kind anfasst muss er damit leben das er das Gleiche erfährt, oder
nicht???
Für uns
ist das der richtige Weg damit umzugehen. Man merkt den Leuten an das sie über
ihr eigenes Verhalten peinlich berührt sind wenn man sie anspricht. Und
vielleicht…aber nur vielleicht!...ändert das ja ihr Verhalten beim nächsten Mal
wenn ein behindertes Kind ihren Weg kreuzt.