Freitag, 28. Juli 2017

Osteopathie
Ungefähr zu dieser Zeit sind wir zum ersten Mal zur Osteopathie gegangen. Die Physiotherapeutin hatte uns den Vorschlag gemacht das mal auszuprobieren denn Jonathans Kopf war (durch den langen Krankenhausaufenthalt und die damit verbundene Lagerung) am Hinterkopf wirklich extrem platt.

Ich hatte gar keine Vorstellung davon was Osteopathie überhaupt ist, damit hatte ich noch nie Berührungspunkte gehabt.

Wir haben also übers Internet eine Praxis in unserer Nähe herausgesucht die auch auf Kinder spezialisiert ist und einen Termin vereinbart. Dann sind mein Mann und ich zum ersten Mal mit Jonathan hingefahren und waren sehr gespannt was uns erwarten würde!!!

Allein das Gebäude in dem die Praxis untergebracht ist war schon sehenswert: es handelt sich um ein Gebäude aus dem späten Mittelalter das auf einem Berg gelegen ist. Man hatte einen traumhaften Blick über die ganze Stadt und befand sich zudem mitten im Wald. Okay: die Anfahrt war abenteuerlich…ich glaube so eine steile Straße bin ich in Deutschland noch nie hoch gefahren und ich machte mir schon ein bisschen Sorgen wie ich überhaupt herkommen sollte wenn Winter war? (Sie erinnern sich: bei uns gibt es immer viel Schnee!) Zur Not müsste ich halt laufen – aber dann vermutlich schon eine Stunde vor dem Termin hier sein, denn so lange würde ICH mindestens brauchen um DIESEN Berg zu bewältigen!!

Wir klingelten und wurden von einer sympathischen Dame empfangen die uns bat noch einen Moment im Wartezimmer Platz zu nehmen.

Was ich als erstes in dieser Praxis wahrgenommen habe war die Ruhe die dort herrscht. Und damit meine ich nicht nur Ruhe im wörtlichen Sinn das es keine lauten Geräusche gab, sondern auch das die Atmosphäre hier einfach Ruhe vermittelt: die Lichter, die Einrichtung…das alles lädt in dieser Praxis  zum „runter kommen und entspannen“ ein.

Auf dem Tisch im Wartezimmer lag ein Buch: „Osteopathie: sanftes Heilen mit den Händen“…okay?? Hörte sich toll an! Sanft war schon mal gut: dann würde Jonathan hoffentlich nicht so arg heulen wie bei der Physiotherapie!

Wir wurden ins Sprechzimmer geholt und haben uns erst einmal mit unserer Therapeutin unterhalten: die Krankengeschichte, die Vorgeschichte, die vermutliche Diagnose MOPD I. Alles wieder von Anfang…aber ok: musste ja sein, sie musste ja wissen was los war.

Sie bat uns mit Jonathan ins Behandlungszimmer zu kommen. Eine Liege mit Armlehnen stand dort und sie war komplett bedeckt mit Handtüchern, teilweise zu Rollen geformt um Kopf und Arme abzulegen: SEHR gemütlich! Ich hätte in diesem Moment gern mit Jonathan getauscht! 8o))

Mein Mann und ich legten Jonathan auf der Liege ab und setzten uns auf die bereitstehenden Stühle. Unser Baby wirkte total klein und verloren auf dieser riesigen Liege…aber gut: solche Eindrücke würden wir noch öfter in unserem Leben mit ihm erfahren!!

Und dann begann die Behandlung. Für MICH sah es aus als würde die Therapeutin nur ihre Hände auf meinen Sohn legen. Auf die Beine, die Arme, den Rumpf und auch auf/um den Kopf. Mehr konnte ich als Laie nicht erkennen. Trotzdem entspannte Jonathan sich dermaßen das er nach wenigen Minuten eingeschlafen war!! Faszinierend!! Was für ein Unterschied zur Physiotherapie – ging mir direkt durch den Kopf. Zur Osteopathie zu kommen würde mir von daher nicht schwer fallen! 8o))

Heute sind fast 2 Jahre vergangen und wir sind weiterhin dort in Behandlung. Eine Therapie die ich früher nicht kannte und heute in den höchsten Tönen loben möchte:
Jonathans platter Hinterkopf hat sich wunderschön geformt! Die früher sehr eng aufeinanderliegenden Schädelplatten haben sich gedehnt. Seine Beinfehlstellungen/X-Beine sind schon deutlich besser geworden, die Therapeutin arbeitet weiter unermüdlich daran und ich bin überzeugt dass wir noch sehr viel bessere Ergebnisse erzielen werden. 

Mittlerweile habe ich sogar zwei Freundinnen mit unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen die Osteopathie als solches empfohlen und BEIDE sind mehr als begeistert und schon nach wenigen Sitzungen ihre Probleme losgeworden!

Was ich an unserer Therapeutin sehr schätze ist die Tatsache dass sie ehrlich auf die Gesundheit von Jonathan bedacht ist. Termine haben wir nur circa alle 6 Wochen weil sie sagt dass es öfter nicht sinnvoll ist. In einer Phase in der Jonathan bei der Osteopathie sehr viel geweint hat teilte die Therapeutin mir ihre Überlegung mit die Therapie vielleicht zu unterbrechen da „Jonathan am Ende übertherapiert ist und eine Pause braucht“.

Mal ehrlich: welcher Therapeut in der heutigen Zeit, in der jeder nur auf den eigenen Profit und den eigenen Verdienst zu schielen scheint würde von sich aus weniger Behandlung oder sogar eine Pause vorschlagen??? Eben! Und genau deswegen weiß ich dass ich hier an der richtigen Adresse bin! Denn hier steht mein Sohn und seine Gesundheit im Vordergrund und nicht das Bankkonto!!


Der 1.Weihnachtsmarktbesuch
Jeder der Kinder hat weiß wie schön die Vorweihnachtszeit sein kann! Man wird selbst wieder ein bisschen Kind und von dem „Zauber der Weihnacht“ erfasst – naja, jedenfalls geht es mir so seit Marvin da ist. Weihnachten mit Kind ist für mich viel schöner als ohne Kind: ich LIEBE Weihnachten!!!

Wir lesen Weihnachtsbücher…wir basteln…wir backen. Wir dekorieren die ganze Wohnung (es sieht dann immer ein bisschen so aus wie ich mir Weihnachtsdeko in Amerika vorstelle!). Da wir das große Glück haben in einer Region in Deutschland zu leben in der es doch recht regelmäßig schneit machen wir auch Schneeballschlachten und bauen Schneemänner. Und wir fahren auf Weihnachtsmärkte.

Diese erste Weihnachtszeit mit Jonathan verbrachte ich noch glücklicher als in den Jahren zuvor: bei Marvin war der Mythos Weihnachten mittlerweile „enttarnt“, er glaubte nicht mehr an den Weihnachtsmann. Aber jetzt war Jonathan da und wir konnten noch mal ganz von vorn beginnen mit all diesem Zauber. Obwohl Marvin mir (bis heute übrigens!) vorwirft das ich ihn „belogen“ habe was den Weihnachtsmann betrifft hilft er trotzdem tatkräftig mit diesen Zauber für Jonathan aufrecht zu erhalten. 8o))

Da Jonathans Immunsystem ja nicht das Beste ist und die Vorweihnachtszeit auch gern von Infekten begleitet wird haben wir beschlossen nur auf einen einzigen Weihnachtsmarkt zu fahren – um den kleinen Mann keinem zu großen Risiko auszusetzen. Wir haben uns einen doch recht milden Tag ohne Regen und Schnee ausgesucht und sind losgefahren. Waren total aufgedreht und aufgekratzt! Der erste Weihnachtsmarkt zu viert! So viele Lichter, Gerüche und Geräusche die wir Jonathan zeigen konnten.

Er war zu diesem Zeitpunkt circa 40cm groß, also weitaus kleiner als jedes Baby das man sonst so auf der Straße sehen kann. Das muss ich der Fairness halber an dieser Stelle erwähnen! Denn was wir an diesem Tag erlebt haben ist wirklich jenseits der Schmerzgrenze.

Ich habe lange überlegt ob ich in meinem Blog überhaupt über so etwas reden soll. Denn ich räume Menschen dadurch hier einen Platz und eine Wichtigkeit ein die sie in meinen Augen nicht verdient haben. Dennoch habe ich mich entschieden es zu erzählen: um wach zu rütteln!! Und jeden der das liest dazu zu bringen über sein Handeln und seine Aussagen GUT nachzudenken.

Der Weihnachtsmarkt war sehr gut besucht. Als wir ankamen hat Jonathan in seinem Kinderwagen geschlafen und wir haben uns zuerst die Stände ein wenig angeschaut. Doch irgendwann wurde er wach und wir haben ihn auf den Arm genommen. Ihm die Flasche gegeben. Und dann bin ich mit ihm über den Platz gelaufen um ihm die Stände und die Lichter zu zeigen.

Was soll ich sagen? Ich konnte keine DREI METER (ich schwöre!) laufen ohne dass jemand auf mich zu kam um ihn ANZUFASSEN!!! Meist waren es ältere Damen die ihn erblickt haben und dann sagten „O, ist der süß!“ und ihn betatschten – am Kopf, an der Backe, an der Nase. In zwei Stunden in denen er auf meinem Arm war ist mir das sicherlich ohne zu übertreiben 40 Mal passiert. Und ich frage mich: WARUM MACHEN DIESE MENSCHEN DAS? WAS WÜRDEN SIE DAZU SAGEN WENN ICH IHNEN EINFACH INS GESICHT FASSEN WÜRDE?? FÄNDEN SIE BESTIMMT NICHT SCHÖN! ALSO WARUM TUN SIE MEINEM SOHN DAS DANN AN? Konnten wir nicht einfach unsere Ruhe hier haben?? Ich war genervt – und Marvin auch. Als dann die gefühlt 100ste Oma kam die die Hand nach Jonathan ausstreckte sagte Marvin schlagfertig und ziemlich streng: „Nicht anfassen, der beißt!“ Den Blick der Oma werde ich nie vergessen. Sorry: aber es war die einzig richtige Reaktion von Marvin! Finger weg von fremden Babys! Die haben nämlich auch eine Privatsphäre!

Aber es kam noch schlimmer. Am Glühweinstand. Ein junger Mann kam auf mich zu und sagte wortwörtlich: „Entschuldigung. Aber wo ist da das Batteriefach? Das ist doch kein echtes Baby!“ Nein, Sie haben sich nicht verlesen: genau das hat er gesagt…ohne Worte, oder??? Ich habe es mit einem Becher Glühwein zu viel entschuldigt. Aber Sie merken auch: ich habe das seit damals nicht vergessen! Solche Kommentare tun weh. Mein Baby ist kein DING: es hat keine BATTERIEN. Es ist ein Mensch und ich liebe es!!!

Nach zwei Stunden hatten wir keine Kraft mehr die Blicke der Leute auszuhalten, das Betatschen abzuwehren oder die dummen Kommentare wegzustecken: wir legten Jonathan in seinen Wagen.

Leider hatten zwei ältere Damen vorher noch einen Blick auf ihn erhascht und kamen zu uns. Beugten sich über den Wagen und schauten hinein „Ach, ist der süß!“. Eine dritte ältere Dame die nicht dazu gehörte dachte wohl es gebe etwas umsonst und kam auch dazu. Nun hingen also drei Frauen mit ihren Köpfen über dem Kinderwagen und stierten Jonathan an. Der fing an zu weinen. Worauf eine Dame sagte: „Ach Gott, was hat er denn auf einmal?“…ich konnte es mir nicht verkneifen zu sagen: „Was würden Sie machen wenn drei Ihnen völlig fremde Gesichter über Ihnen hingen und sie anstarren würden?“ Daraufhin löste sich die Kleingruppe ziemlich schnell auf.

An diesem Tag auf dem Weihnachtsmarkt ist uns bewusst geworden das die Reaktion der Kellnerin beim Geburtstagsessen meines Mannes keine Ausnahme war: wir stehen wirklich IMMER im Mittelpunkt und werden angestarrt. Die Schwestern auf der Frühchenstation hatten uns das prophezeit, aber man kann sich das gar nicht richtig vorstellen bis man es erlebt.

Um mal kurz abzuschweifen…eine weitere Geschichte die mich wirklich sehr getroffen hat.

Ich war im Supermarkt einkaufen und wurde von einem Mann mittleren Alters angesprochen: „Och, wie alt ist denn das Kleine?“, und ich sagte frei heraus: „Er ist 7 Monate. Er ist kleinwüchsig, deswegen ist er so winzig.“ Woraufhin der Mann mich von oben bis unten musterte und dann sagte: „Na, da werden Sie in der Schwangerschaft wohl Drogen genommen oder gesoffen haben – sonst wäre SOWAS ja nicht passiert!“

Noch heute fehlen mir die Worte und mir stehen Tränen in den Augen wenn ich das erzähle. Jonathan hat einen Gendefekt, seine Krankheit hat ganz andere Ursachen. Aber davon mal abgesehen: wie kann man einer Mutter so etwas ins Gesicht sagen??? Was ist das für ein Miteinander, wo ist der Respekt für den anderen???

Zugegeben: SOLCHE Kommentare sind die Ausnahme. Die meisten Leute die uns ansprechen tun dies weil sie Jonathan süß finden oder ihnen auffällt das er viel kleiner ist als seine Gesichtszüge vermuten lassen. Die meisten Leute sind wirklich nett und verständnisvoll. Doch die wenigen die solche dummen Kommentare abgeben – die bleiben im Gedächtnis, weil sie einem wehtun. Und ich gebe zu das es Tage gibt an denen ich absichtlich nicht unter Menschen gehe weil ich keine Kraft habe mich den Blicken auszusetzen oder Angst vor dummen Sprüchen habe. Und eigentlich…ist das total blöd! Warum sollte ICH mich verstecken?? Ich habe ja nichts verbrochen!!

Über die Zeit habe ich festgestellt das Behinderungen in unserer Gesellschaft immer noch nicht salonfähig sind, so liberal wir auch immer tun! Kommt ein Kind im Rollstuhl oder ein Kind das anders aussieht: wird geglotzt. Und das nicht immer unauffällig!! Nein, mitunter drehen sich Menschen in Lokalen auf ihren Stühlen komplett zu uns um und starren minutenlang. Kein schönes Gefühl!

Wir haben unsere eigene Art entwickelt mit dem allen umzugehen. Man merkt es ja: ich bin nicht auf den Mund gefallen. Und vielleicht ist das auch genau gut so in meiner Situation! 8o)

Stelle ich fest das jemand unangemessen starrt gehe ich zu ihm und sage ihm das Jonathan kleinwüchsig ist und deswegen so anders aussieht.

Merke ich das jemand in meiner Nähe zu tuscheln anfängt gehe ich hin und frage ob er irgendetwas von mir wissen möchte?? Denn er könne mich das auch einfach so fragen und müsse das nicht hinter vorgehaltener Hand tun!

Tatscht jemand Jonathan an…tatsche ich die Person genau an derselben Stelle an! Okay: das kostet beim ersten Mal ein wenig Überwindung! Aber die Blicke sind unbezahlbar und ich amüsiere mich jedes Mal aufs Neue darüber!! Ehrlich: wenn jemand mein Kind anfasst muss er damit leben das er das Gleiche erfährt, oder nicht???

Für uns ist das der richtige Weg damit umzugehen. Man merkt den Leuten an das sie über ihr eigenes Verhalten peinlich berührt sind wenn man sie anspricht. Und vielleicht…aber nur vielleicht!...ändert das ja ihr Verhalten beim nächsten Mal wenn ein behindertes Kind ihren Weg kreuzt.