Der erste
Haarschnitt
…kam bei
Jonathan erst im Alter von über zwei Jahren…lach…
Lange
Zeit hatte der kleine Mann nämlich überhaupt keine Haare, dann nur einen zarten
Flaum - der aber nicht länger wurde. Auf meine Befürchtungen das Jonathan unter
Umständen wegen des Gendefekts GAR KEINE Haare bekommen würde…konnte mir kein
Arzt etwas erwidern.
Es ist eine Tatsache dass bei vielen Kindern
mit MOPD1 ein spärlicher Haarwuchs beschrieben wurde. Außerdem sind die Haare
dieser Kinder sehr oft „farblos“ – die Pigmente fehlen einfach. Bei Jonathan
waren die Augenbrauen so gut wie nicht sichtbar, sie bestanden nur aus sehr
wenigen und farblosen Haaren. Also war die Vermutung, das er keine
Kopfbehaarung bekommen würde, naheliegend.
Was aber unserer Humangenetikerin auffiel:
Jonathan HATTE Wimpern. Und zwar sehr lange, sehr dichte und SCHWARZE Wimpern.
Also bestand vielleicht doch Hoffnung dass auch die Kopfhaare wachsen würden??
Zu Anfang machte ich mir über das „Haarthema“
einige Gedanken. Doch irgendwann dachte ich: „Ich kann es nicht ändern, selbst
wenn er keine Haare bekommt. Und eigentlich..ist DAS doch auch nicht soooo
wichtig!“
Also haben wir das einfach so hingenommen und warteten
einfach darauf was passieren würde.
Ein „Problem“ bringt Jonathans Krankheit auf jeden
Fall mit sich: er hat eine SEHR trockene Haut die viel eingecremt werden muss.
Besonders im Winter wenn sie durch die trockene Heizungsluft noch zusätzlich
ausgetrocknet wird. Am Kopf ist es „am schlimmsten“, und so cremten wir dort
immer fleißig.
Trotzdem schuppte sich die Haut immer wieder und
unschöne Hautschuppen entstanden.
Meine Kosmetikerin hatte eine tolle Idee: ich hatte
von ihr eine elektrische Gesichtsbürste bekommen. Diese sollte die Durchblutung
anregen und die abgestorbenen Hautschüppchen lösen. Als sie Jonathan sah meinte
sie, dass ich einen zweiten Aufsatz für die Bürste kaufen und dem kleinen Mann
regelmäßig den Kopf massieren solle. Das würde ihm bestimmt gefallen und auf
jeden Fall das Hautbild verbessern.
Da ich oft sah wie Jonathan sich den Kopf am Boden
„schubberte“ als würde er jucken, fand ich es sei einen Versuch wert das mal
auszuprobieren.
Und was soll ich sagen??? Es war der HAMMER!!
Erstens war der kleine Mann absolut begeistert mit der Bürste den Kopf
„gekrault“ zu bekommen! Er kniff genießerisch die Augen zu und lag ganz still.
Zweitens wurde schon nach wenigen Tagen die Kopfhaut tatsächlich besser!! Keine
Schüppchen mehr!!
..und DRITTENS….begannen HAARE zu wachsen!! So
krass!!! Das lag offensichtlich daran dass die Massage mit der elektrischen
Bürste die Durchblutung förderte… und damit eben den Haarwuchs.
(Als unser Kinderarzt Jonathan das erste Mal „mit
Haaren“ sah war er total begeistert und fragte mich was ich gemacht hätte. Ich
habe ihm von dem Bürstchen erzählt und er sagte daraufhin total trocken: „Ich
glaube sowas brauche ich auch mal!“…LOL)
Natürlich hatte Jonathan nicht innerhalb kürzester
Zeit eine „Walle-Mähne“, das ist klar. Seine Haare waren und sind sehr dünn und
sehr spärlich. Ich habe auch den Eindruck dass sie langsamer wachsen als bei
anderen Menschen. Und aus diesem Grund dauerte es über ein Jahr bis wir
überhaupt darüber NACHDACHTEN mit ihm mal zum Frisör zu gehen.
Aber irgendwann wurde es Zeit dafür weil ihm
Haarsträhnen in die Ohren hingen und er sich immer wieder die Ohren aufkratzte
weil es ihn kitzelte.
Natürlich hätte ich im Endeffekt auch die Strähnen
selber abschneiden können. ABER…Jonathan ist SEHR LEBHAFT und immer in Action,
er hält nicht still. Alles an ihm ist so klein und ich kann sowieso NICHT gut
Haare schneiden – ich hatte Angst ihm mit der Schere ins Ohr zu schneiden.
Wenn ich zum Friseur gehe, muss Jonathan in der
Regel sowieso mit. Also habe ich meine Friseurin (zu der ich schon seit vielen
Jahren gehe) gefragt ob sie beim nächsten Termin mal „ein wenig Ordnung in das
Chaos bringen könne“. Was sie auch sehr gerne machen wollte!!
Sie kann unglaublich gut mit Kindern umgehen, hat
Marvin schon als kleinem Wicht immer die Haare geschnitten und er hat sie vom
ersten Moment an geliebt. Außerdem hat sie Jonathan schon gekannt bevor er auf
der Welt war, sie hat die ganze schwierige Schwangerschaft mitbekommen und
immer mit mir mitgefiebert. Also wer, wenn nicht sie, wäre jetzt besser für
diesen „Job“ geeignet gewesen???
Beim nächsten Termin ging sogar Marvin mit, was
auch sehr gut war: ist Jonathan doch immer viel ruhiger und entspannter wenn er
mit seinem Bruder zusammen ist.
Ich war ganz schön aufgeregt! Lach…eigentlich ja
totaler Blödsinn, aber der erste Haarschnitt ist schon irgendwie was
Besonderes.
Marvin saß auf dem Stuhl und hatte Jonathan auf dem
Schoß. Und dann fingen die „Probleme“ an. Unsere Friseurin betrachtete den
kleinen Mann und stellte fest das selbst ihr kleinster Kinderumhang NICHT
passen würde weil Jonathans Hals einfach zu dünn und er selbst viel zu kurz
war. Ohne Umhang wollte sie aber nicht schneiden damit ihm keine Haare in die
Kleidung fielen und ihn juckten.
Wir überlegten gemeinsam. Ich kam auf die Idee dass
wir ihm ein kleines Handtuch umlegen könnten, nur wie machten wir das fest
damit es nicht rutschte?? Da hatte sie aber eine Idee: das ginge doch mit einer
großen Haarklammer! Gesagt, getan! Es klappte….und zwar perfekt!!! Man muss nur
Ideen haben und kreativ sein…
Jetzt hieß es Jonathan abzulenken damit man ihm die
Haare schneiden konnte. Der Spiegel vor dem er mit Marvin saß war schon mal die
halbe Miete. Dann hat unsere Friseurin noch ein Bilderbuch gebracht und schon
konnte sie loslegen. Auf dem Schoß seines Bruders fühlte Jonathan sich sicher
und ließ sich alles gefallen.
(Für mich ist es immer wieder beeindruckend zu
sehen welches Vertrauen Jonathan zu Marvin hat. Dabei hatte ich nach Jonathans
Geburt solche Angst dass die beiden durch die lange Zeit im Krankenhaus keine
Bindung zueinander finden würden! Diese Angst war sowas von unbegründet!!!
Allein die Blicke die Jonathan seinem großen Bruder in für ihn unüberschaubaren
Situationen zuwirft sind einfach nicht zu beschreiben. Als wollte er ihn
fragen: „Ist die Situation okay oder muss ich Angst haben?“)
Unsere Friseurin ließ sich Zeit die Haare zu
schneiden und erklärte Jonathan auch immer wieder was sie tat oder zeigte es
ihm im Spiegel. Natürlich kann man nicht davon sprechen das der kleine Mann
einen „richtigen Schnitt“ bekommen hat: dafür sind seine Haare zu dünn und zu
wenig. Doch die Ohren waren wieder frei.
Übrigens…auf Wunsch EINER „Facebook-Fanin“ wurde
Jonathans Haar am Oberkopf nur MINIMAL gekürzt. Denn diese Frau liebt einfach
seine LOCKE so sehr! 8o))
Besuch im Gesundheitszentrum
Jonathans Gendefekt bringt auch diverse
Knochenfehlbildungen mit sich. Bei ihm besonders stark betroffen sind die
Beine: er hat X-Beine, ab dem Knie steht der Unterschenkel in einem
35Grad-Winkel ab. Ich habe so etwas tatsächlich noch NIE in live gesehen…wenn
Jonathan die Beine ausstreckt liegen die Unterschenkel irgendwie komplett nach
außen gedreht…das er so nicht stehen oder laufen kann: brauche ich niemandem zu
sagen.
Wir sind regelmäßig bei unserer Orthopädin. Diese
hatte schon vor circa einem halben Jahr gesagt das wir über Lagerungsschienen
für die Nacht nachdenken sollten. Damit könnten wir versuchen die Beine zu
begradigen. ABER: ähnlich wie bei einer Zahnspange passiert das natürlich mit
Druck. Und Druck tut weh. Die Nächte könnten also etwas unruhig werden.
Das war der Punkt der uns an der Stelle dazu
bewogen hat zu sagen: wir versuchen es erst noch einmal mit Osteopathie und
Physiotherapie. Arbeiten mit den Therapeuten an Übungen die die Beine grade
stellen könnten. Denn die Nächte waren (und sind) bei uns die Hölle. Auch ohne
Schienen.
Denn Jonathan schläft nicht durch. Und hat es noch
nie getan.
Er schläft einige Stunden in seinem eigenen Bett,
dann wird er wach. Wir haben WIRKLICH alles versucht…nichts bringt ihn dazu
dort weiterzuschlafen. Es hilft nur ihn mit zu uns ins Bett und in den Arm zu
nehmen. Aber auch dann: schläft er nicht ruhig sondern wacht alle halbe Stunde
auf und schreit WIE AM SPIESS. Warum das so ist…? Keine Ahnung. Wir wissen nur,
dass so ziemlich alle Eltern von Kindern mit Primordialen Kleinwuchsformen
damit Probleme haben…
Vielleicht liegt es daran das diese Kinder zu wenige
Schlafhormone produzieren oder das sie aufgrund der vorhandenen
Hirnfehlbildungen eine innere Unruhe besitzen die man nicht ausschalten kann.
Wir wissen es nicht genau. Wir wussten nur dass wir diesen Zustand, der uns
sowieso schon so viel Kraft kostete, nicht noch mit Schienen verschlimmern
wollten.
Also haben wir mit den Therapeuten Übungen gefunden
die helfen sollten die Beine zu begradigen. Ein halbes Jahr hatte ich sehr
intensiv mit Jonathan gearbeitet, und die Therapeuten ebenso.
Nun stand der nächste Kontrollbesuch bei der
Orthopädin an. Sie hat die Beine gemessen und festgestellt: ein Bein hatte sich
tatsächlich gebessert!!! Juchuuuuu!!! …aber ein Bein…war schlimmer geworden….na
toll!
Also führte nun kein Weg mehr an Lagerungsschienen
vorbei, denn das wir Jonathan „auf die Beine“ bekommen wollten stand für uns
einfach fest. Dafür musste er aber auch die körperlichen Voraussetzungen haben.
Wir haben ein Rezept erhalten mit der Maßgabe ein
Gesundheitszentrum aufzusuchen das auf Kinder spezialisiert und somit in der
Lage war diese winzigen Schienen überhaupt herzustellen. Die Orthopädin sagte
noch zu mir das wir eigentlich „Quengel-Schienen“ benötigen würden: das sind
Schienen mit einem Gelenk welches man immer fester anziehen kann – ähnlich wie
eine Zahnspange eben. Doch das es nicht möglich wäre diese Schienen in
Jonathans Größe anzufertigen, denn das kleinste Gelenk allein sei schon so groß
wie sein komplettes Bein.
Bei der Suche nach einem geeigneten
Gesundheitszentrum kam es mir zu Gute das ich einen Freund habe der in genau in
einem solchen arbeitet. 8o)) Es befindet sich nur 11 km von uns weg UND es hat
eine eigene Werkstatt. Das fand ich UNSCHÄTZBAR!! Derjenige der die Abdrücke
für die Schienen nehmen würde…würde die Schienen auch bauen. Und hätte
natürlich auch eine wirkliche Vorstellung davon WIE klein Jonathans Beine
waren!!
Also habe ich dort einen Termin gemacht und bin mit
Jonathan hingefahren. Ich habe dem Mitarbeiter (leider nicht meinem Freund, der
ist nicht auf Kinder spezialisiert) erklärt das wir EIGENTLICH Quengelschienen
brauchen würden, aber das wohl nicht möglich sei. Das sah er genauso.
Die erste Herausforderung vor der wir standen: wenn
Gipsabdrücke genommen werden müssen dann bekommt der Patient eine Art Strumpf
an – damit der Gips später nicht an der Haut klebt. Aber alle Strümpfe die
vorrätig waren – waren viel zu groß für Jonathans Mini-Beine. Kurzes Überlegen
und Absprachen unter den beiden anwesenden Mitarbeitern. Dann schnappte sich
einer einen Strumpf und ging.
Ich habe den anderen Mitarbeiter gefragt was sie denn
nun vorhatten. Ganz einfach: man würde diesen Strumpf kaputt schneiden und neu
zusammen nähen. Zum Glück kann hier offensichtlich jeder eine Nähmaschine
bedienen und schon nach kurzer Zeit war der Mitarbeiter mit dem selbst genähten
Strumpf wieder da. Und der passte auch noch wie angegossen!! Toll…ich war begeistert
das hier so viel Erfindungsreichtum und Kreativität an den Tag gelegt wurde.
Und dann, beim Gipsabdrücke für die Schienen nehmen…hielt
der eine Mitarbeiter Jonathans Bein in seiner Hand. Auf einmal fing er an zu
grinsen und sagte: „Ich habe da eine Idee!“. Nachdem die Abdrücke fertig waren
ging er weg und kam kurze Zeit danach wieder. Mit einem Gelenk in der Hand. Er
zeigte es mir, hielt es an Jonathans Bein und erklärte mir dass es sich hier um
ein Gelenk für einen FINGER handeln würde. Die Gelenke für Beine waren
tatsächlich zu groß, aber man könnte doch mit einem FINGERGELENK arbeiten???
Das passte auch!! Hammer..ich war SCHWER beeindruckt!!
Weniger beeindruckt war ich mal wieder von unserer
Krankenkasse….
Wir haben einen Kostenvoranschlag für die Schienen
bekommen und diesen dann auch bei der Kasse eingereicht. Nach wenigen Tagen
bekamen wir einen Anruf:
Das Gesundheitszentrum ist leider kein
Vertragspartner unserer Krankenkasse und deswegen sieht man sich außerstande
die kompletten Kosten zu übernehmen. Wir müssten 25% selber tragen – von 3000€
wohlgemerkt, denn das kosteten diese kleinen Schienen.
Ich war geschockt und habe gefragt wo denn der
nächste Vertragspartner der Krankenkasse sei. Der war 80 Kilometer weit
weg….hatte er eine eigene Werkstatt??? Nein, hatte er nicht. Das bedeutete für
mich: wenn ich dorthin fahren würde…würde ich ZIGMAL fahren!! Denn jedes Mal
wenn die Schienen anprobiert würden und etwas drückte oder nicht passte –
müssten sie eingeschickt werden. Und ich könnte erst dann wiederkommen wenn die
Schienen das Gesundheitszentrum wieder erreicht hatten…wenn sie dann wieder
nicht passten…naja, man kann es sich vorstellen denke ich.
Deswegen habe ich der Bearbeiterin erklärt das es
doch für alle Beteiligten viel Zeit- und Kostensparender wäre auf DAS Zentrum
zurückzugreifen das in der Nähe ist UND eine eigene Werkstatt hat!! Wenn man
dort feststellt dass etwas nicht passt geht der Mitarbeiter einfach eine Etage
höher und behebt das Problem während ich warte. Außerdem waren die Mitarbeiter
in dem von mir gewählten Haus so pfiffig und einfallsreich! Es musste doch auch
im Sinne der Kasse liegen dass man GUTE WARE bezahlte, die auch etwas brachte!!
Oder nicht??
Der Kompromiss bestand darin das wir eine
Kostenübernahme für EIN PAAR Schienen bekamen. Doch wenn wir wieder welche
benötigen, was der Fall sein wird wenn Jonathan wächst…dann müssen wir entweder
Weg und Zeit in Kauf nehmen und zum Vertragspartner der Kasse fahren. Oder eben
ein Viertel der Kosten selber bezahlen.
Verstehe einer die deutsche Bürokratie. Wir tun es
nicht.