Freitag, 23. März 2018


Der erste Haarschnitt
…kam bei Jonathan erst im Alter von über zwei Jahren…lach…

Lange Zeit hatte der kleine Mann nämlich überhaupt keine Haare, dann nur einen zarten Flaum - der aber nicht länger wurde. Auf meine Befürchtungen das Jonathan unter Umständen wegen des Gendefekts GAR KEINE Haare bekommen würde…konnte mir kein Arzt etwas erwidern.

Es ist eine Tatsache dass bei vielen Kindern mit MOPD1 ein spärlicher Haarwuchs beschrieben wurde. Außerdem sind die Haare dieser Kinder sehr oft „farblos“ – die Pigmente fehlen einfach. Bei Jonathan waren die Augenbrauen so gut wie nicht sichtbar, sie bestanden nur aus sehr wenigen und farblosen Haaren. Also war die Vermutung, das er keine Kopfbehaarung bekommen würde, naheliegend.
Was aber unserer Humangenetikerin auffiel: Jonathan HATTE Wimpern. Und zwar sehr lange, sehr dichte und SCHWARZE Wimpern. Also bestand vielleicht doch Hoffnung dass auch die Kopfhaare wachsen würden??

Zu Anfang machte ich mir über das „Haarthema“ einige Gedanken. Doch irgendwann dachte ich: „Ich kann es nicht ändern, selbst wenn er keine Haare bekommt. Und eigentlich..ist DAS doch auch nicht soooo wichtig!“

Also haben wir das einfach so hingenommen und warteten einfach darauf was passieren würde.

Ein „Problem“ bringt Jonathans Krankheit auf jeden Fall mit sich: er hat eine SEHR trockene Haut die viel eingecremt werden muss. Besonders im Winter wenn sie durch die trockene Heizungsluft noch zusätzlich ausgetrocknet wird. Am Kopf ist es „am schlimmsten“, und so cremten wir dort immer fleißig.

Trotzdem schuppte sich die Haut immer wieder und unschöne Hautschuppen entstanden.

Meine Kosmetikerin hatte eine tolle Idee: ich hatte von ihr eine elektrische Gesichtsbürste bekommen. Diese sollte die Durchblutung anregen und die abgestorbenen Hautschüppchen lösen. Als sie Jonathan sah meinte sie, dass ich einen zweiten Aufsatz für die Bürste kaufen und dem kleinen Mann regelmäßig den Kopf massieren solle. Das würde ihm bestimmt gefallen und auf jeden Fall das Hautbild verbessern.

Da ich oft sah wie Jonathan sich den Kopf am Boden „schubberte“ als würde er jucken, fand ich es sei einen Versuch wert das mal auszuprobieren.

Und was soll ich sagen??? Es war der HAMMER!! Erstens war der kleine Mann absolut begeistert mit der Bürste den Kopf „gekrault“ zu bekommen! Er kniff genießerisch die Augen zu und lag ganz still. Zweitens wurde schon nach wenigen Tagen die Kopfhaut tatsächlich besser!! Keine Schüppchen mehr!!

..und DRITTENS….begannen HAARE zu wachsen!! So krass!!! Das lag offensichtlich daran dass die Massage mit der elektrischen Bürste die Durchblutung förderte… und damit eben den Haarwuchs.

(Als unser Kinderarzt Jonathan das erste Mal „mit Haaren“ sah war er total begeistert und fragte mich was ich gemacht hätte. Ich habe ihm von dem Bürstchen erzählt und er sagte daraufhin total trocken: „Ich glaube sowas brauche ich auch mal!“…LOL)

Natürlich hatte Jonathan nicht innerhalb kürzester Zeit eine „Walle-Mähne“, das ist klar. Seine Haare waren und sind sehr dünn und sehr spärlich. Ich habe auch den Eindruck dass sie langsamer wachsen als bei anderen Menschen. Und aus diesem Grund dauerte es über ein Jahr bis wir überhaupt darüber NACHDACHTEN mit ihm mal zum Frisör zu gehen.

Aber irgendwann wurde es Zeit dafür weil ihm Haarsträhnen in die Ohren hingen und er sich immer wieder die Ohren aufkratzte weil es ihn kitzelte.

Natürlich hätte ich im Endeffekt auch die Strähnen selber abschneiden können. ABER…Jonathan ist SEHR LEBHAFT und immer in Action, er hält nicht still. Alles an ihm ist so klein und ich kann sowieso NICHT gut Haare schneiden – ich hatte Angst ihm mit der Schere ins Ohr zu schneiden.

Wenn ich zum Friseur gehe, muss Jonathan in der Regel sowieso mit. Also habe ich meine Friseurin (zu der ich schon seit vielen Jahren gehe) gefragt ob sie beim nächsten Termin mal „ein wenig Ordnung in das Chaos bringen könne“. Was sie auch sehr gerne machen wollte!!

Sie kann unglaublich gut mit Kindern umgehen, hat Marvin schon als kleinem Wicht immer die Haare geschnitten und er hat sie vom ersten Moment an geliebt. Außerdem hat sie Jonathan schon gekannt bevor er auf der Welt war, sie hat die ganze schwierige Schwangerschaft mitbekommen und immer mit mir mitgefiebert. Also wer, wenn nicht sie, wäre jetzt besser für diesen „Job“ geeignet gewesen???

Beim nächsten Termin ging sogar Marvin mit, was auch sehr gut war: ist Jonathan doch immer viel ruhiger und entspannter wenn er mit seinem Bruder zusammen ist.

Ich war ganz schön aufgeregt! Lach…eigentlich ja totaler Blödsinn, aber der erste Haarschnitt ist schon irgendwie was Besonderes.

Marvin saß auf dem Stuhl und hatte Jonathan auf dem Schoß. Und dann fingen die „Probleme“ an. Unsere Friseurin betrachtete den kleinen Mann und stellte fest das selbst ihr kleinster Kinderumhang NICHT passen würde weil Jonathans Hals einfach zu dünn und er selbst viel zu kurz war. Ohne Umhang wollte sie aber nicht schneiden damit ihm keine Haare in die Kleidung fielen und ihn juckten.

Wir überlegten gemeinsam. Ich kam auf die Idee dass wir ihm ein kleines Handtuch umlegen könnten, nur wie machten wir das fest damit es nicht rutschte?? Da hatte sie aber eine Idee: das ginge doch mit einer großen Haarklammer! Gesagt, getan! Es klappte….und zwar perfekt!!! Man muss nur Ideen haben und kreativ sein…

Jetzt hieß es Jonathan abzulenken damit man ihm die Haare schneiden konnte. Der Spiegel vor dem er mit Marvin saß war schon mal die halbe Miete. Dann hat unsere Friseurin noch ein Bilderbuch gebracht und schon konnte sie loslegen. Auf dem Schoß seines Bruders fühlte Jonathan sich sicher und ließ sich alles gefallen.

(Für mich ist es immer wieder beeindruckend zu sehen welches Vertrauen Jonathan zu Marvin hat. Dabei hatte ich nach Jonathans Geburt solche Angst dass die beiden durch die lange Zeit im Krankenhaus keine Bindung zueinander finden würden! Diese Angst war sowas von unbegründet!!! Allein die Blicke die Jonathan seinem großen Bruder in für ihn unüberschaubaren Situationen zuwirft sind einfach nicht zu beschreiben. Als wollte er ihn fragen: „Ist die Situation okay oder muss ich Angst haben?“)

Unsere Friseurin ließ sich Zeit die Haare zu schneiden und erklärte Jonathan auch immer wieder was sie tat oder zeigte es ihm im Spiegel. Natürlich kann man nicht davon sprechen das der kleine Mann einen „richtigen Schnitt“ bekommen hat: dafür sind seine Haare zu dünn und zu wenig. Doch die Ohren waren wieder frei.
Übrigens…auf Wunsch EINER „Facebook-Fanin“ wurde Jonathans Haar am Oberkopf nur MINIMAL gekürzt. Denn diese Frau liebt einfach seine LOCKE so sehr! 8o))


Besuch im Gesundheitszentrum
Jonathans Gendefekt bringt auch diverse Knochenfehlbildungen mit sich. Bei ihm besonders stark betroffen sind die Beine: er hat X-Beine, ab dem Knie steht der Unterschenkel in einem 35Grad-Winkel ab. Ich habe so etwas tatsächlich noch NIE in live gesehen…wenn Jonathan die Beine ausstreckt liegen die Unterschenkel irgendwie komplett nach außen gedreht…das er so nicht stehen oder laufen kann: brauche ich niemandem zu sagen.

Wir sind regelmäßig bei unserer Orthopädin. Diese hatte schon vor circa einem halben Jahr gesagt das wir über Lagerungsschienen für die Nacht nachdenken sollten. Damit könnten wir versuchen die Beine zu begradigen. ABER: ähnlich wie bei einer Zahnspange passiert das natürlich mit Druck. Und Druck tut weh. Die Nächte könnten also etwas unruhig werden.

Das war der Punkt der uns an der Stelle dazu bewogen hat zu sagen: wir versuchen es erst noch einmal mit Osteopathie und Physiotherapie. Arbeiten mit den Therapeuten an Übungen die die Beine grade stellen könnten. Denn die Nächte waren (und sind) bei uns die Hölle. Auch ohne Schienen.
Denn Jonathan schläft nicht durch. Und hat es noch nie getan.

Er schläft einige Stunden in seinem eigenen Bett, dann wird er wach. Wir haben WIRKLICH alles versucht…nichts bringt ihn dazu dort weiterzuschlafen. Es hilft nur ihn mit zu uns ins Bett und in den Arm zu nehmen. Aber auch dann: schläft er nicht ruhig sondern wacht alle halbe Stunde auf und schreit WIE AM SPIESS. Warum das so ist…? Keine Ahnung. Wir wissen nur, dass so ziemlich alle Eltern von Kindern mit Primordialen Kleinwuchsformen damit Probleme haben…

Vielleicht liegt es daran das diese Kinder zu wenige Schlafhormone produzieren oder das sie aufgrund der vorhandenen Hirnfehlbildungen eine innere Unruhe besitzen die man nicht ausschalten kann. Wir wissen es nicht genau. Wir wussten nur dass wir diesen Zustand, der uns sowieso schon so viel Kraft kostete, nicht noch mit Schienen verschlimmern wollten.

Also haben wir mit den Therapeuten Übungen gefunden die helfen sollten die Beine zu begradigen. Ein halbes Jahr hatte ich sehr intensiv mit Jonathan gearbeitet, und die Therapeuten ebenso.
Nun stand der nächste Kontrollbesuch bei der Orthopädin an. Sie hat die Beine gemessen und festgestellt: ein Bein hatte sich tatsächlich gebessert!!! Juchuuuuu!!! …aber ein Bein…war schlimmer geworden….na toll!

Also führte nun kein Weg mehr an Lagerungsschienen vorbei, denn das wir Jonathan „auf die Beine“ bekommen wollten stand für uns einfach fest. Dafür musste er aber auch die körperlichen Voraussetzungen haben.

Wir haben ein Rezept erhalten mit der Maßgabe ein Gesundheitszentrum aufzusuchen das auf Kinder spezialisiert und somit in der Lage war diese winzigen Schienen überhaupt herzustellen. Die Orthopädin sagte noch zu mir das wir eigentlich „Quengel-Schienen“ benötigen würden: das sind Schienen mit einem Gelenk welches man immer fester anziehen kann – ähnlich wie eine Zahnspange eben. Doch das es nicht möglich wäre diese Schienen in Jonathans Größe anzufertigen, denn das kleinste Gelenk allein sei schon so groß wie sein komplettes Bein.

Bei der Suche nach einem geeigneten Gesundheitszentrum kam es mir zu Gute das ich einen Freund habe der in genau in einem solchen arbeitet. 8o)) Es befindet sich nur 11 km von uns weg UND es hat eine eigene Werkstatt. Das fand ich UNSCHÄTZBAR!! Derjenige der die Abdrücke für die Schienen nehmen würde…würde die Schienen auch bauen. Und hätte natürlich auch eine wirkliche Vorstellung davon WIE klein Jonathans Beine waren!!

Also habe ich dort einen Termin gemacht und bin mit Jonathan hingefahren. Ich habe dem Mitarbeiter (leider nicht meinem Freund, der ist nicht auf Kinder spezialisiert) erklärt das wir EIGENTLICH Quengelschienen brauchen würden, aber das wohl nicht möglich sei. Das sah er genauso.

Die erste Herausforderung vor der wir standen: wenn Gipsabdrücke genommen werden müssen dann bekommt der Patient eine Art Strumpf an – damit der Gips später nicht an der Haut klebt. Aber alle Strümpfe die vorrätig waren – waren viel zu groß für Jonathans Mini-Beine. Kurzes Überlegen und Absprachen unter den beiden anwesenden Mitarbeitern. Dann schnappte sich einer einen Strumpf und ging.

Ich habe den anderen Mitarbeiter gefragt was sie denn nun vorhatten. Ganz einfach: man würde diesen Strumpf kaputt schneiden und neu zusammen nähen. Zum Glück kann hier offensichtlich jeder eine Nähmaschine bedienen und schon nach kurzer Zeit war der Mitarbeiter mit dem selbst genähten Strumpf wieder da. Und der passte auch noch wie angegossen!! Toll…ich war begeistert das hier so viel Erfindungsreichtum und Kreativität an den Tag gelegt wurde.

Und dann, beim Gipsabdrücke für die Schienen nehmen…hielt der eine Mitarbeiter Jonathans Bein in seiner Hand. Auf einmal fing er an zu grinsen und sagte: „Ich habe da eine Idee!“. Nachdem die Abdrücke fertig waren ging er weg und kam kurze Zeit danach wieder. Mit einem Gelenk in der Hand. Er zeigte es mir, hielt es an Jonathans Bein und erklärte mir dass es sich hier um ein Gelenk für einen FINGER handeln würde. Die Gelenke für Beine waren tatsächlich zu groß, aber man könnte doch mit einem FINGERGELENK arbeiten??? Das passte auch!! Hammer..ich war SCHWER beeindruckt!!

Weniger beeindruckt war ich mal wieder von unserer Krankenkasse….

Wir haben einen Kostenvoranschlag für die Schienen bekommen und diesen dann auch bei der Kasse eingereicht. Nach wenigen Tagen bekamen wir einen Anruf:
Das Gesundheitszentrum ist leider kein Vertragspartner unserer Krankenkasse und deswegen sieht man sich außerstande die kompletten Kosten zu übernehmen. Wir müssten 25% selber tragen – von 3000€ wohlgemerkt, denn das kosteten diese kleinen Schienen.

Ich war geschockt und habe gefragt wo denn der nächste Vertragspartner der Krankenkasse sei. Der war 80 Kilometer weit weg….hatte er eine eigene Werkstatt??? Nein, hatte er nicht. Das bedeutete für mich: wenn ich dorthin fahren würde…würde ich ZIGMAL fahren!! Denn jedes Mal wenn die Schienen anprobiert würden und etwas drückte oder nicht passte – müssten sie eingeschickt werden. Und ich könnte erst dann wiederkommen wenn die Schienen das Gesundheitszentrum wieder erreicht hatten…wenn sie dann wieder nicht passten…naja, man kann es sich vorstellen denke ich.

Deswegen habe ich der Bearbeiterin erklärt das es doch für alle Beteiligten viel Zeit- und Kostensparender wäre auf DAS Zentrum zurückzugreifen das in der Nähe ist UND eine eigene Werkstatt hat!! Wenn man dort feststellt dass etwas nicht passt geht der Mitarbeiter einfach eine Etage höher und behebt das Problem während ich warte. Außerdem waren die Mitarbeiter in dem von mir gewählten Haus so pfiffig und einfallsreich! Es musste doch auch im Sinne der Kasse liegen dass man GUTE WARE bezahlte, die auch etwas brachte!! Oder nicht??

Der Kompromiss bestand darin das wir eine Kostenübernahme für EIN PAAR Schienen bekamen. Doch wenn wir wieder welche benötigen, was der Fall sein wird wenn Jonathan wächst…dann müssen wir entweder Weg und Zeit in Kauf nehmen und zum Vertragspartner der Kasse fahren. Oder eben ein Viertel der Kosten selber bezahlen.

Verstehe einer die deutsche Bürokratie. Wir tun es nicht.