Nachdem
die ersten Tage „Eingewöhnung“ vorbei waren fing für uns der Alltag an. Wir
hatten bei der Entlassung eine „To-Do-Liste“ bekommen:
-einen
Kinderarzt suchen
-einen
Physiotherapeuten suchen und Termine für die Physiotherapie vereinbaren
-einen Kontrolltermin
beim Orthopäden vereinbaren
-einen
Augenarzt suchen und einen Termin vereinbaren
-einen
Termin in 2-3 Wochen in unserer Klinik vereinbaren damit die Blutwerte erneut
kontrolliert werden könnten
-einen
Termin beim Kardiologen vereinbaren um die zu Hause gemessenen Blutdruckwerte
und das weitere Vorgehen zu besprechen
-einen
Termin mit den Kinderchirurgen unserer Klinik vereinbaren
Uff....DAS
war eine LISTE!!!
Ich bekam
einen Eindruck davon was es hieß ein Leben mit einem behinderten Kind zu
führen. Man hat TERMINE, TERMINE, TERMINE…ich kann mich nicht erinnern mit
Marvin JEMALS so viele TERMINE gehabt zu haben!! Und da wir nun lauter neue
Ärzte und Therapeuten kennenlernen würden mussten wir auch immer wieder aufs
Neue unsere Geschichte erzählen und erklären was MOPD für eine Krankheit ist –
denn keiner kennt sie, was ich auch niemandem verübeln kann da sie so selten
ist!!!
Wir
arbeiteten nun also unsere To-Do-Liste ab:
Kinderarzt
Ich kann
mich ehrlich gesagt nicht mehr erinnern wie wir an die Adresse einer
Kinderärztin in unserer Nähe gekommen sind. Aber wir haben dort einen Termin
vereinbart: es ging in erster Linie darum sie kennenzulernen, um die Ausstellung von Rezepten für die
Physiotherapie und um eine Besprechung wie es mit den regelmäßigen
Blutkontrollen (wegen des Elektrolytverlustes mußte Jonathans Blut weiterhin REGELMÄSSIG
kontrolliert werden damit man rechtzeitig bemerkte wenn er wieder „sauer“ würde)
weitergehen sollte. Uns behagte der Gedanke nicht alle 2-3 Wochen in die 80km
entfernte Klinik fahren zu müssen (welcher Zeit- und auch finanzielle
Aufwand!!) und uns dort Keimen auszusetzen…
Das erste
Zusammentreffen mit der Ärztin war wirklich mehr als befremdlich: sie kam
herein und sagte uns „Hallo!“, dann nahm sie Jonathan auf den Arm und….KÜSSTE
ihn!! Ich war so perplex das ich gar nichts dazu sagen konnte. Aber irgendwie
fand ich die Situation mehr als befremdlich: eine mir vollkommen fremde Person
maßt sich an meinen Sohn einfach so zu küssen???? Was war DAS für eine Ärztin????
Sympathie kam bei mir in diesem Moment nicht wirklich auf.
Auch das
was wir mit ihr besprochen haben war unbefriedigend: obwohl ich bei der
Terminvereinbarung mitgeteilt hatte was für ein Gendefekt vermutet wurde hatte
sie sich in KEINSTER Weise damit auseinandergesetzt, ich musste alles wieder
von Anfang an erklären, sie wusste überhaupt nicht was diese Krankheit bedeutet
oder für Auswirkungen hat.
Die
gewünschten Rezepte habe ich bekommen. Doch zu meiner Frage bezüglich der
Blutabnahme, ob es denn nicht möglich sei dies regelmäßig hier vor Ort (bei ihr
oder auch im Kreiskrankenhaus) zu erledigen wurde mir beschieden: „Das kann
KEIN Kinderarzt hier in der Nähe!! Und auch das Krankenhaus ist da nicht
zuständig, da müssen Sie schon immer in die Klinik fahren in der Jonathan zur
Welt kam – ist leider anders nicht möglich!“
Ich habe
einen neuen Termin vereinbart und bin nach Hause gefahren. Und war total
unzufrieden!! DAS sollte meine neue Kinderärztin sein? Auf meiner Seite war
weder Vertrauen noch Sympathie! Und DAS erachte ich bei einem Kind wie Jonathan
als immens wichtig!! Ich musste mich doch auf meinen Arzt verlassen können!! Er
würde ein wichtiger und steter Begleiter in meinem Leben sein.
Zum
GLÜCK, zu unserem WAHNSINNIGEN GLÜCK!!, kam eine Freundin von mir zu Besuch um
Jonathan kennenzulernen und fragte mich bei welchem Kinderarzt ich denn sei.
Als ich ihr dann erzählte wie unzufrieden ich war meinte sie das ihr Kinderarzt
der „absolute Hammer“ sei und außerdem Frühchenerfahrung habe - denn er käme
von einer Station für Neonatologie, und zwar aus dem Krankenhaus in dem
Jonathan zur Welt gekommen ist!! Ich war Feuer und Flamme und habe mir gleich
die Adresse und Telefonnummer geben lassen. Dann habe ich dort angerufen und ehrlich
erzählt dass ich mit meiner Ärztin nicht zufrieden bin und den Arzt gerne
kennenlernen würde um zu sehen ob „die Chemie bei ihm besser stimmt“.
Und was
soll ich sagen??? Die Chemie stimmt!!! Ich denke auf beiden Seiten.
Für
unseren ersten Termin hat sich der Arzt sehr viel Zeit genommen UND er hatte
sich vorher über die Krankheit informiert!!! Das zeigte mir dass er
interessiert und engagiert war, zudem kannte er aus seinen Klinikzeiten
natürlich noch viele unserer behandelnden Ärzte und auch unsere
Humangenetikerin. Nicht ganz unwichtig: wenn es mal Probleme geben sollte und
die behandelnden Ärzte auf dem kurzen Dienstweg miteinander reden könnten wäre
das für mich sehr beruhigend!! Fachlich blickte er auf viele Jahre
Berufserfahrung zurück und das BESTE: er würde in seiner Praxis die
Blutentnahmen machen und diese dann in einem externen Labor auswerten lassen!!!
Damit war
es entschieden: DAS war unser Kinderarzt!!! Alles stimmte: Sympathie, Erfahrung
und wir hätten die Blutkontrollen vor Ort. Ich war begeistert!!! Bis heute habe
ich diese Entscheidung nie bereut: unser Arzt ist einer der wichtigsten
Menschen in meinem Leben mit Jonathan geworden - ich vertraue ihm vollkommen
und blind. Ich spüre dass er meinen Sohn wirklich mag, dass er nicht nur aus
medizinischem Interesse agiert. Wenn ich in Panik verfalle oder in Tränen
ausbreche weil Jonathan mal krank ist holt er mich auf den Teppich zurück. Und
er hat uns schon viele bürokratische Hürden erleichtert, oft mit unserer
Krankenkasse „gestritten“ wenn es um die Beschaffung von Hilfsmitteln ging.
Kurz: er hält uns den Rücken frei!!! Ich bin unendlich froh und dankbar dass
wir ihn gefunden haben!!!
(Nur der
Vollständigkeit halber: ich habe die Ärztin angerufen, den vereinbarten Termin
abgesagt UND mitgeteilt das die Chemie für mich nicht gestimmt hat und wir
einen neuen Kinderarzt gefunden haben.)
Physiotherapie
Schon im
Krankenhaus hat Jonathan jeden Tag „geturnt“, sprich: es kam eine
Physiotherapeutin die mit ihm Übungen gemacht hat.
Es gibt
zwei Formen von Physiotherapie: die Therapie nach Vojta und die Therapie nach
Bobath. Im Krankenhaus wurde die Therapie nach Vojta angewendet. Sie trägt zur
Kräftigung der Muskulatur bei, was bei Frühchen wichtig ist da sie oft
monatelang in ihrem Bettchen liegen ohne sich großartig bewegen zu können, ja
oftmals liegen sie sogar sehr lange in fast nur einer Körperposition.
Ich habe
also eine Therapeutin mit Vojtaerfahrung gesucht. Auch hier hat mir eine
Freundin geholfen: mein Mann kennt sie seit Kindertagen, ich war ihr erst im
Krankenhaus näher gekommen denn sie hat einige Monate vor mir ein Frühchen
entbunden und sie hatte in der Klinik lange Zeit den Platz/den Inkubator neben
uns. (Die Welt ist eben klein!)
Sie hat
mir gesagt zu welcher Therapeutin sie geht und mir die Telefonnummer gegeben.
Ich habe
also dort angerufen und der Therapeutin mein Sprüchlein aufgesagt: „Hallo, ich
bräuchte einen Termin. Mein Sohn hat Verdacht auf MOPD Typ 1, das ist ein sehr
seltener……“, und dann fiel sie mir schon ins Wort: „Ich weiß was das ist, ich
kenne diese Krankheit!“…ich bin aus allen Wolken gefallen!! Bitte was???? Sie
KANNTE diese Krankheit?? Hammer!!! Ich habe also mein Erstaunen zum Ausdruck
gebracht, denn sie war der erste Mensch den ich kennenlernte der mit der
Krankheit etwas anfangen konnte!! Und dann sagte sie - und die Erinnerung macht
mir heute noch Gänsehaut wenn ich darüber rede/schreibe: „Ich habe einen
Patienten mit derselben Erkrankung.“
….nur ein
kleiner Satz, aber meine Welt stand Kopf!!! Ich habe losgeschrien und gelacht!!
Ich hatte den Jungen mit MOPD gefunden der von unserer Humangenetikerin vor uns
behandelt worden war!!!! Meine Hoffnung dass er in der Nähe wohnte hatte sich
bestätigt….ich konnte mein Glück nicht fassen, ich war außer mir vor Freude!!
Natürlich
wusste ich das auch die Physiotherapeutin mir seine Kontaktdaten nicht nennen durfte, aber ich habe ihr meine
Daten gegeben und sie gebeten diese weiterzureichen: denn es wäre doch schön wenn
wir uns kennenlernen könnten. Das hat die Therapeutin auch getan und es kam zum
Kontakt mit dieser Familie – aber das ist ein Thema das mir so wichtig ist das
ich darauf später und ausführlicher eingehen möchte!!
Zunächst
einmal begannen wir mit unserer Therapie.
Im
Krankenhaus wurde jeden Tag mit Jonathan „geturnt“, ansonsten war ich bisher
weder mit der Therapie nach Vojta noch nach Bobath konfrontiert worden.
Deswegen war meine Erwartungshaltung das es werden würde wie in der Klinik:
mein Sohn liegt entspannt auf dem Schoß oder im Arm der Therapeutin und seine
Beine und Arme werden bewegt und gedehnt. Nun ja…meine Erwartungen wichen von
der Realität ja dermaßen weit ab!!
Zunächst
einmal musste ich Jonathan komplett ausziehen, selbst die Windel. Jetzt
verstand ich auch warum ich gebeten worden war ein Handtuch mitzubringen. Und
dann begann die Therapeutin mit den Übungen: insgesamt 3 Stück – eine bei der
er auf dem Rücken lag, eine bei der er auf dem Bauch lag und eine bei der er
auf der Seite lag. Diese drei Übungen dienten zuerst einmal der
Muskelkräftigung und sollten ihn auch dazu bringen sich später allein
umzudrehen und zu robben.
Was soll
ich sagen…ich sollte vorweg schicken das ich auch heute, fast 2 Jahre nach
diesem ersten Termin, noch FELSENFEST davon überzeugt bin das die
Vojta-Therapie gut ist und große Erfolge bringt!! Aber…jeder der diese Therapie
kennt weiß es: Vojta ist nicht schön!! Denn die Kinder werden in Positionen
„gezwungen“ die sie vielleicht in diesem Moment nicht mögen, sie werden
festgehalten um bestimmte Bewegungen/Reaktionen aus ihnen herauszukitzeln. Sie
können sich nicht anders mitteilen, also schreien sie. Wie am Spieß. Und wehren
sich. Mit aller Kraft die sie haben.
Viele
Eltern halten deswegen die Vojta-Therapie nicht über einen längeren Zeitraum
durch. DENN: es ist leider nicht mit einem Termin beim Therapeuten pro Woche
getan. Man muss JEDEN TAG zu Hause die Übungen machen um zum Ziel zu gelangen.
Das heißt
im Klartext: mein Mann und ich haben die Übungen gelernt. Wir haben sie
gezeigt/erklärt bekommen und unter Anleitung der Therapeutin in der Praxis
geübt bis die Handgriffe saßen. Und dann haben wir sie jeden Tag mit Jonathan
zu Hause gemacht. Er hat geschrien, er hat sich gewehrt, er hat sich aufgebäumt
– man muss das ausblenden und darüber stehen… wenn man Erfolge will: muss man
trotzdem weiter turnen. Diese Therapie ist nichts für zart besaitete Eltern,
denn wenn man es nicht aushält das Kind weinen zu sehen und aus dem Grund die
Übungen daheim nicht macht – dann kann man die Therapie auch gleich abbrechen,
sie wird dann nichts bringen.
Wenn man
meinen Blog bis hierher gelesen hat, dann weiß man das ich nicht grade ein
Mimöschen bin wenn es um Therapien oder Behandlungen bei meinen Kindern geht:
sonst hätte ich z.B. keine Magensonden legen können. Trotzdem muss ich an der
Stelle zugeben dass es auch bei mir Momente in der Therapie gegeben hat in
denen ich mit den Tränen gekämpft habe, in denen ich in der Physiopraxis aus
dem Raum gegangen bin weil ich NICHT ertragen konnte wie sehr mein Kind
geschrien hat!!!
Am
Schreien hat sich über die Zeit nichts geändert, die Therapeutin und ich haben
viele Dinge ausprobiert: so bin ich z.B. nicht mit in den Behandlungsraum
gegangen sondern habe im Wartezimmer gesessen und gelesen. Doch Jonathan hat
genauso gebrüllt wie immer. Also bin ich dann wieder mit dazu gekommen und habe
versucht ihn mit Worten zu beruhigen, vergebens.
Das
Interessante ist: zu Hause hat Jonathan nicht so schlimm geschrien und sich
gewehrt. Er hat zwar auch geweint, aber es war noch in einem für mich
erträglichen Rahmen so dass ich die Übungen konsequent durchgezogen habe.
Die wöchentlichen
Physiotermine waren für mich aber immer eine Qual. Oftmals habe ich schon
morgens Bauchschmerzen gehabt weil ich wusste dass er wieder wie am Spieß
schreien wird und ich nichts dagegen tun kann. Ich war jedes Mal extrem
erleichtert wenn die 45 Minuten vorbei waren und ich wusste das ich nun eine
Woche „Ruhe“ habe.
Irgendwann
kam dann der Zeitpunkt wo ich den Sinn der Vojta-Therapie in Frage gestellt
habe…ich habe jeden Tag zu Hause geturnt, wir sind einmal die Woche in die
Praxis gefahren – und es hat sich einfach nichts getan!! Er war über ein Jahr
alt und konnte noch immer…nichts! Sich nicht umdrehen, nicht rollen…sollten am
Ende die Ärzte untertrieben haben mit ihren Prognosen und er noch nicht mal in
der Lage sein von allein seine Position zu verändern????
Mir fiel
es zunehmend schwerer die Übungen mit Jonathan zu machen. Ich fragte mich fast
jeden Tag: WOFÜR???? Er mag es nicht, es bringt nichts…sollte ich es nicht
einfach lassen???
Aber dann
kam der Tag…an dem er sich von allein drehte!! Er war 17 Monate alt und ich
habe geweint. Sturzbäche geweint. Und Gott gedankt. Nun wusste ich wofür ich
mich und ihn „gequält“ hatte. Und ich konnte leichteren Herzens weitermachen,
ich war wieder motiviert.
Nachdem
die erste Freude ein wenig abgeebbt war begann ich mir Gedanken zu machen. Wenn
er in der Lage war sich zu drehen – und ihn die Therapie dazu animiert und
befähigt hatte- zu was war sie dann noch in der Lage?? Wäre es vielleicht auch
möglich, wenn ich nur hart genug mit ihm arbeite…ihn auch zum krabbeln zu
bewegen?? Entgegen aller Aussagen der Ärzte???
Und auf
einmal hatte ich ein Ziel!! Ich wollte beweisen dass mein Sohn viel mehr kann
als alle denken! Ich wollte die Ärzte Lügen strafen! Ich wollte „Recht“ haben,
ich sah doch in seinen Augen dass so viel mehr in ihm steckte…er war ein
Kämpfer!! Er hatte schon so viel geschafft, warum nicht auch das???
Was
Jonathan bis heute erreicht hat und kann….werde ich an dieser Stelle noch nicht
verraten! Um das zu erfahren müsst ihr meinen Blog auch weiterhin lesen….8o)