Freitag, 30. Juni 2017

Nachdem die ersten Tage „Eingewöhnung“ vorbei waren fing für uns der Alltag an. Wir hatten bei der Entlassung eine „To-Do-Liste“ bekommen:

-einen Kinderarzt suchen

-einen Physiotherapeuten suchen und Termine für die Physiotherapie vereinbaren

-einen Kontrolltermin beim Orthopäden vereinbaren

-einen Augenarzt suchen und einen Termin vereinbaren

-einen Termin in 2-3 Wochen in unserer Klinik vereinbaren damit die Blutwerte erneut kontrolliert werden könnten

-einen Termin beim Kardiologen vereinbaren um die zu Hause gemessenen Blutdruckwerte und das weitere Vorgehen zu besprechen

-einen Termin mit den Kinderchirurgen unserer Klinik vereinbaren


Uff....DAS war eine LISTE!!!

Ich bekam einen Eindruck davon was es hieß ein Leben mit einem behinderten Kind zu führen. Man hat TERMINE, TERMINE, TERMINE…ich kann mich nicht erinnern mit Marvin JEMALS so viele TERMINE gehabt zu haben!! Und da wir nun lauter neue Ärzte und Therapeuten kennenlernen würden mussten wir auch immer wieder aufs Neue unsere Geschichte erzählen und erklären was MOPD für eine Krankheit ist – denn keiner kennt sie, was ich auch niemandem verübeln kann da sie so selten ist!!!


Wir arbeiteten nun also unsere To-Do-Liste ab:


Kinderarzt
Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr erinnern wie wir an die Adresse einer Kinderärztin in unserer Nähe gekommen sind. Aber wir haben dort einen Termin vereinbart: es ging in erster Linie darum sie kennenzulernen,  um die Ausstellung von Rezepten für die Physiotherapie und um eine Besprechung wie es mit den regelmäßigen Blutkontrollen (wegen des Elektrolytverlustes mußte Jonathans Blut weiterhin REGELMÄSSIG kontrolliert werden damit man rechtzeitig bemerkte wenn er wieder „sauer“ würde) weitergehen sollte. Uns behagte der Gedanke nicht alle 2-3 Wochen in die 80km entfernte Klinik fahren zu müssen (welcher Zeit- und auch finanzielle Aufwand!!) und uns dort Keimen auszusetzen…

Das erste Zusammentreffen mit der Ärztin war wirklich mehr als befremdlich: sie kam herein und sagte uns „Hallo!“, dann nahm sie Jonathan auf den Arm und….KÜSSTE ihn!! Ich war so perplex das ich gar nichts dazu sagen konnte. Aber irgendwie fand ich die Situation mehr als befremdlich: eine mir vollkommen fremde Person maßt sich an meinen Sohn einfach so zu küssen???? Was war DAS für eine Ärztin???? Sympathie kam bei mir in diesem Moment nicht wirklich auf.

Auch das was wir mit ihr besprochen haben war unbefriedigend: obwohl ich bei der Terminvereinbarung mitgeteilt hatte was für ein Gendefekt vermutet wurde hatte sie sich in KEINSTER Weise damit auseinandergesetzt, ich musste alles wieder von Anfang an erklären, sie wusste überhaupt nicht was diese Krankheit bedeutet oder für Auswirkungen hat.

Die gewünschten Rezepte habe ich bekommen. Doch zu meiner Frage bezüglich der Blutabnahme, ob es denn nicht möglich sei dies regelmäßig hier vor Ort (bei ihr oder auch im Kreiskrankenhaus) zu erledigen wurde mir beschieden: „Das kann KEIN Kinderarzt hier in der Nähe!! Und auch das Krankenhaus ist da nicht zuständig, da müssen Sie schon immer in die Klinik fahren in der Jonathan zur Welt kam – ist leider anders nicht möglich!“


Ich habe einen neuen Termin vereinbart und bin nach Hause gefahren. Und war total unzufrieden!! DAS sollte meine neue Kinderärztin sein? Auf meiner Seite war weder Vertrauen noch Sympathie! Und DAS erachte ich bei einem Kind wie Jonathan als immens wichtig!! Ich musste mich doch auf meinen Arzt verlassen können!! Er würde ein wichtiger und steter Begleiter in meinem Leben sein.

Zum GLÜCK, zu unserem WAHNSINNIGEN GLÜCK!!, kam eine Freundin von mir zu Besuch um Jonathan kennenzulernen und fragte mich bei welchem Kinderarzt ich denn sei. Als ich ihr dann erzählte wie unzufrieden ich war meinte sie das ihr Kinderarzt der „absolute Hammer“ sei und außerdem Frühchenerfahrung habe - denn er käme von einer Station für Neonatologie, und zwar aus dem Krankenhaus in dem Jonathan zur Welt gekommen ist!! Ich war Feuer und Flamme und habe mir gleich die Adresse und Telefonnummer geben lassen. Dann habe ich dort angerufen und ehrlich erzählt dass ich mit meiner Ärztin nicht zufrieden bin und den Arzt gerne kennenlernen würde um zu sehen ob „die Chemie bei ihm besser stimmt“.

Und was soll ich sagen??? Die Chemie stimmt!!! Ich denke auf beiden Seiten.

Für unseren ersten Termin hat sich der Arzt sehr viel Zeit genommen UND er hatte sich vorher über die Krankheit informiert!!! Das zeigte mir dass er interessiert und engagiert war, zudem kannte er aus seinen Klinikzeiten natürlich noch viele unserer behandelnden Ärzte und auch unsere Humangenetikerin. Nicht ganz unwichtig: wenn es mal Probleme geben sollte und die behandelnden Ärzte auf dem kurzen Dienstweg miteinander reden könnten wäre das für mich sehr beruhigend!! Fachlich blickte er auf viele Jahre Berufserfahrung zurück und das BESTE: er würde in seiner Praxis die Blutentnahmen machen und diese dann in einem externen Labor auswerten lassen!!!

Damit war es entschieden: DAS war unser Kinderarzt!!! Alles stimmte: Sympathie, Erfahrung und wir hätten die Blutkontrollen vor Ort. Ich war begeistert!!! Bis heute habe ich diese Entscheidung nie bereut: unser Arzt ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben mit Jonathan geworden - ich vertraue ihm vollkommen und blind. Ich spüre dass er meinen Sohn wirklich mag, dass er nicht nur aus medizinischem Interesse agiert. Wenn ich in Panik verfalle oder in Tränen ausbreche weil Jonathan mal krank ist holt er mich auf den Teppich zurück. Und er hat uns schon viele bürokratische Hürden erleichtert, oft mit unserer Krankenkasse „gestritten“ wenn es um die Beschaffung von Hilfsmitteln ging. Kurz: er hält uns den Rücken frei!!! Ich bin unendlich froh und dankbar dass wir ihn gefunden haben!!!

(Nur der Vollständigkeit halber: ich habe die Ärztin angerufen, den vereinbarten Termin abgesagt UND mitgeteilt das die Chemie für mich nicht gestimmt hat und wir einen neuen Kinderarzt gefunden haben.)


Physiotherapie
Schon im Krankenhaus hat Jonathan jeden Tag „geturnt“, sprich: es kam eine Physiotherapeutin die mit ihm Übungen gemacht hat.
Es gibt zwei Formen von Physiotherapie: die Therapie nach Vojta und die Therapie nach Bobath. Im Krankenhaus wurde die Therapie nach Vojta angewendet. Sie trägt zur Kräftigung der Muskulatur bei, was bei Frühchen wichtig ist da sie oft monatelang in ihrem Bettchen liegen ohne sich großartig bewegen zu können, ja oftmals liegen sie sogar sehr lange in fast nur einer Körperposition.

Ich habe also eine Therapeutin mit Vojtaerfahrung gesucht. Auch hier hat mir eine Freundin geholfen: mein Mann kennt sie seit Kindertagen, ich war ihr erst im Krankenhaus näher gekommen denn sie hat einige Monate vor mir ein Frühchen entbunden und sie hatte in der Klinik lange Zeit den Platz/den Inkubator neben uns. (Die Welt ist eben klein!)

Sie hat mir gesagt zu welcher Therapeutin sie geht und mir die Telefonnummer gegeben.

Ich habe also dort angerufen und der Therapeutin mein Sprüchlein aufgesagt: „Hallo, ich bräuchte einen Termin. Mein Sohn hat Verdacht auf MOPD Typ 1, das ist ein sehr seltener……“, und dann fiel sie mir schon ins Wort: „Ich weiß was das ist, ich kenne diese Krankheit!“…ich bin aus allen Wolken gefallen!! Bitte was???? Sie KANNTE diese Krankheit?? Hammer!!! Ich habe also mein Erstaunen zum Ausdruck gebracht, denn sie war der erste Mensch den ich kennenlernte der mit der Krankheit etwas anfangen konnte!! Und dann sagte sie - und die Erinnerung macht mir heute noch Gänsehaut wenn ich darüber rede/schreibe: „Ich habe einen Patienten mit derselben Erkrankung.“

….nur ein kleiner Satz, aber meine Welt stand Kopf!!! Ich habe losgeschrien und gelacht!! Ich hatte den Jungen mit MOPD gefunden der von unserer Humangenetikerin vor uns behandelt worden war!!!! Meine Hoffnung dass er in der Nähe wohnte hatte sich bestätigt….ich konnte mein Glück nicht fassen, ich war außer mir vor Freude!!

Natürlich wusste ich das auch die Physiotherapeutin mir seine Kontaktdaten  nicht nennen durfte, aber ich habe ihr meine Daten gegeben und sie gebeten diese weiterzureichen: denn es wäre doch schön wenn wir uns kennenlernen könnten. Das hat die Therapeutin auch getan und es kam zum Kontakt mit dieser Familie – aber das ist ein Thema das mir so wichtig ist das ich darauf später und ausführlicher eingehen möchte!!


Zunächst einmal begannen wir mit unserer Therapie.


Im Krankenhaus wurde jeden Tag mit Jonathan „geturnt“, ansonsten war ich bisher weder mit der Therapie nach Vojta noch nach Bobath konfrontiert worden. Deswegen war meine Erwartungshaltung das es werden würde wie in der Klinik: mein Sohn liegt entspannt auf dem Schoß oder im Arm der Therapeutin und seine Beine und Arme werden bewegt und gedehnt. Nun ja…meine Erwartungen wichen von der Realität ja dermaßen weit ab!!


Zunächst einmal musste ich Jonathan komplett ausziehen, selbst die Windel. Jetzt verstand ich auch warum ich gebeten worden war ein Handtuch mitzubringen. Und dann begann die Therapeutin mit den Übungen: insgesamt 3 Stück – eine bei der er auf dem Rücken lag, eine bei der er auf dem Bauch lag und eine bei der er auf der Seite lag. Diese drei Übungen dienten zuerst einmal der Muskelkräftigung und sollten ihn auch dazu bringen sich später allein umzudrehen und zu robben.


Was soll ich sagen…ich sollte vorweg schicken das ich auch heute, fast 2 Jahre nach diesem ersten Termin, noch FELSENFEST davon überzeugt bin das die Vojta-Therapie gut ist und große Erfolge bringt!! Aber…jeder der diese Therapie kennt weiß es: Vojta ist nicht schön!! Denn die Kinder werden in Positionen „gezwungen“ die sie vielleicht in diesem Moment nicht mögen, sie werden festgehalten um bestimmte Bewegungen/Reaktionen aus ihnen herauszukitzeln. Sie können sich nicht anders mitteilen, also schreien sie. Wie am Spieß. Und wehren sich. Mit aller Kraft die sie haben.

Viele Eltern halten deswegen die Vojta-Therapie nicht über einen längeren Zeitraum durch. DENN: es ist leider nicht mit einem Termin beim Therapeuten pro Woche getan. Man muss JEDEN TAG zu Hause die Übungen machen um zum Ziel zu gelangen.

Das heißt im Klartext: mein Mann und ich haben die Übungen gelernt. Wir haben sie gezeigt/erklärt bekommen und unter Anleitung der Therapeutin in der Praxis geübt bis die Handgriffe saßen. Und dann haben wir sie jeden Tag mit Jonathan zu Hause gemacht. Er hat geschrien, er hat sich gewehrt, er hat sich aufgebäumt – man muss das ausblenden und darüber stehen… wenn man Erfolge will: muss man trotzdem weiter turnen. Diese Therapie ist nichts für zart besaitete Eltern, denn wenn man es nicht aushält das Kind weinen zu sehen und aus dem Grund die Übungen daheim nicht macht – dann kann man die Therapie auch gleich abbrechen, sie wird dann nichts bringen.


Wenn man meinen Blog bis hierher gelesen hat, dann weiß man das ich nicht grade ein Mimöschen bin wenn es um Therapien oder Behandlungen bei meinen Kindern geht: sonst hätte ich z.B. keine Magensonden legen können. Trotzdem muss ich an der Stelle zugeben dass es auch bei mir Momente in der Therapie gegeben hat in denen ich mit den Tränen gekämpft habe, in denen ich in der Physiopraxis aus dem Raum gegangen bin weil ich NICHT ertragen konnte wie sehr mein Kind geschrien hat!!!

Am Schreien hat sich über die Zeit nichts geändert, die Therapeutin und ich haben viele Dinge ausprobiert: so bin ich z.B. nicht mit in den Behandlungsraum gegangen sondern habe im Wartezimmer gesessen und gelesen. Doch Jonathan hat genauso gebrüllt wie immer. Also bin ich dann wieder mit dazu gekommen und habe versucht ihn mit Worten zu beruhigen, vergebens.


Das Interessante ist: zu Hause hat Jonathan nicht so schlimm geschrien und sich gewehrt. Er hat zwar auch geweint, aber es war noch in einem für mich erträglichen Rahmen so dass ich die Übungen konsequent durchgezogen habe.


Die wöchentlichen Physiotermine waren für mich aber immer eine Qual. Oftmals habe ich schon morgens Bauchschmerzen gehabt weil ich wusste dass er wieder wie am Spieß schreien wird und ich nichts dagegen tun kann. Ich war jedes Mal extrem erleichtert wenn die 45 Minuten vorbei waren und ich wusste das ich nun eine Woche „Ruhe“ habe.


Irgendwann kam dann der Zeitpunkt wo ich den Sinn der Vojta-Therapie in Frage gestellt habe…ich habe jeden Tag zu Hause geturnt, wir sind einmal die Woche in die Praxis gefahren – und es hat sich einfach nichts getan!! Er war über ein Jahr alt und konnte noch immer…nichts! Sich nicht umdrehen, nicht rollen…sollten am Ende die Ärzte untertrieben haben mit ihren Prognosen und er noch nicht mal in der Lage sein von allein seine Position zu verändern????


Mir fiel es zunehmend schwerer die Übungen mit Jonathan zu machen. Ich fragte mich fast jeden Tag: WOFÜR???? Er mag es nicht, es bringt nichts…sollte ich es nicht einfach lassen???


Aber dann kam der Tag…an dem er sich von allein drehte!! Er war 17 Monate alt und ich habe geweint. Sturzbäche geweint. Und Gott gedankt. Nun wusste ich wofür ich mich und ihn „gequält“ hatte. Und ich konnte leichteren Herzens weitermachen, ich war wieder motiviert.


Nachdem die erste Freude ein wenig abgeebbt war begann ich mir Gedanken zu machen. Wenn er in der Lage war sich zu drehen – und ihn die Therapie dazu animiert und befähigt hatte- zu was war sie dann noch in der Lage?? Wäre es vielleicht auch möglich, wenn ich nur hart genug mit ihm arbeite…ihn auch zum krabbeln zu bewegen?? Entgegen aller Aussagen der Ärzte???

Und auf einmal hatte ich ein Ziel!! Ich wollte beweisen dass mein Sohn viel mehr kann als alle denken! Ich wollte die Ärzte Lügen strafen! Ich wollte „Recht“ haben, ich sah doch in seinen Augen dass so viel mehr in ihm steckte…er war ein Kämpfer!! Er hatte schon so viel geschafft, warum nicht auch das???


Was Jonathan bis heute erreicht hat und kann….werde ich an dieser Stelle noch nicht verraten! Um das zu erfahren müsst ihr meinen Blog auch weiterhin lesen….8o)



Freitag, 23. Juni 2017

Vorbereitungen für die Entlassung
Jetzt wurde es also wirklich ernst!! Mein Herz hämmerte, ich war so AUFGEREGT!!! Freute mich…und hatte auch ein bißchen Angst um ehrlich zu sein!
Bisher waren wir unter dauernder Beobachtung gewesen was Jonathans Blutwerte, Medikamentengaben, Herzfrequenz oder auch den Blutdruck anging – wenn er nach Hause kam waren wir komplett allein für ihn verantwortlich!! Und ich kann aus meiner Erfahrung sagen, ich habe ja schon ein „gesundes“ Kind: das hier war eine ganz andere Hausnummer!! Zu Anfang der Schwangerschaft hatte mein Mann immer gesagt: „Du kennst Dich aus, Du hast ja alles schon mal erlebt: das ist dann kein Problem und Du bringst mir alles bei!“…ja…hatten wir uns so gedacht. Doch nun war ich zum zweiten Mal Mutter und ALLES war NEU und ANDERS. Also konnte ich meinem Mann GAR NICHTS beibringen, wir lernten gemeinsam die Fürsorge für ein besonderes Kind.

Das fing schon damit an das wir Jonathan im Krankenhaus kurz vor der Entlassung gemeinsam baden durften – nur mein Mann und ich, ganz alleine. Es war ein sehr schöner Moment, das muß ich betonen!! Ein Stück „Normalität“ das andere Eltern eines knapp 5 Monate alten Babys sicherlich gar nicht mehr wirklich wahrnehmen. Aber für uns war es einfach nur…toll!! Aber…und jetzt muß ich bei der Erinnerung ein wenig schmunzeln!!! Es war gar nicht so einfach ihn zu baden…im Gegensatz zu Marvin der schon bei der Geburt 54cm und 3700g hatte, war Jonathan an diesem Tag nur knapp 38cm lang und brachte ca 1800g auf die Waage, seine Arme und Beine waren so unglaublich dünn und dann: HASSTE er es zu baden!!! Er hat geschrien und sich gewunden, war glitschig vom Wasser und wir hatten Angst ihn zu fest zu drücken…es war eine ganz schöne Herausforderung und wir haben beide ziemlich geschwitzt. Wobei…das könnte natürlich auch an der Wärmelampe gelegen haben die genau über uns hing…8o)))


Aber für eins war meine Erfahrung mit meinem ersten Sohn dann doch wichtig: ich habe meinem Mann ein paar Tage vor der Entlassung gesagt das wir uns am besten mal mit unserem Autositz/MaxiCosi beschäftigen sollten. Damit, wie wir Jonathan darin transportieren wollen, denn er war ja ziemlich klein! Einen „Frühchenadapter“ hatten wir, dann haben wir uns ein Plüschtier gesucht das ungefähr 38cm Länge hatte und haben versucht es in dem Sitz anzuschnallen. Nun ja...trotz Frühchenadapter...es hat nicht geklappt! Das Plüschtier war viel zu klein: nach oben und unten war zu viel Luft, die Gurte waren selbst in der kleinsten/engsten Stufe viel zu weit. Ich war entsetzt!! Wir mußten von der Kinderklinik bis nach Hause knapp 80km fahren: da kann man das Baby doch nicht so transportieren!! Das ist ja total gefährlich!!

Ich dachte zuerst an einen Transport im Krankenwagen, den hätten wir dann eben bezahlt. Aber mein Mann sagte –zu Recht!- es müsse doch eine Lösung geben - denn wir müssten ja mit ihm zu Hause auch Auto fahren: zum Arzt, zum Einkaufen…

Mein Mann fing an im Internet zu recherchieren. Und ist auf den BKMF gestoßen: den BUNDESVERBAND FÜR KLEINWÜCHSIGE MENSCHEN UND IHRE FAMILIEN. Dorthin hat er eine Mail geschickt und dann mit einem sehr netten Mann telefoniert der uns erklärt hat wie wir unter zu Hilfenahme von Mulltüchern und Pampers Jonathan so „verankern“ können das er sicher in seinem Autositz sitzen kann. An dieser Stelle: ein großes Dankeschön an diesen Verband!! Sie standen uns oft mit Rat und Tat zur Seite und viele Probleme hätten wir ohne die Hilfe des BKMF nicht lösen können.


So: nun war also auch dieses Hindernis aus der Welt geschafft!! Jetzt konnten wir den Sitz benutzen, hatten Jonathans Bett und Wickeltisch hergerichtet, alle Medikamente und Hilfsmittel zu Hause, Fläschchen ausgekocht und wir hatten auch Kleidung für ihn.

Und dann war der große Tag gekommen.

Ich kann gar nicht genau beschreiben was in mir vorging an diesem Tag! In der Nacht vorher hatte ich kaum geschlafen, ich war so aufgeregt!! Nach fast 5 Monaten durfte mein Baby endlich nach Hause kommen, dahin wo es hingehörte – zu seiner Familie.

Wir sind zum ersten Mal mit „Gepäck“ durch die Türen der Frühchenstation gegangen: ansonsten darf man Gegenstände wegen der Keime nicht mitbringen, muß sie im Spind lassen. Doch heute wartete Jonathan in einem Zimmer allein auf uns, damit wir keine anderen Kinder in Gefahr brachten mit der Kleidung und dem Autositz.

Es war ein unfassbares Gefühl zu wissen das wir heute zum letzten Mal auf dieser Station sind!! Natürlich war auch ein bißchen Wehmut dabei: wir hatten zu einigen Schwestern über die Monate eine sehr enge Bindung aufgebaut, hier war für lange Zeit unser Zuhause gewesen…Jonathans erstes Zuhause. Ohne die aufopfernde Betreuung der Ärzte, Schwestern und Pfleger hätte unser Junge es vielleicht gar nicht bis hierher geschafft!!! Und auch für mich war das Pflegepersonal auf dieser Station eine Stütze gewesen: es hat natürlich Momente gegeben in denen ich auf der Station geweint habe, in denen ich das Gefühl hatte es keinen Tag länger auszuhalten..zu verzweifeln an dieser Situation. Dann hat man mich hier aufgefangen, mir neue Kraft gegeben. Die Pflege hatte sich nicht nur auf Jonathan erstreckt, sondern auch auf uns…

Und von einigen fiel uns deswegen der Abschied sehr schwer. Besonders von der Schwester die Jonathan zur Welt gebracht hatte. Sie war von Anfang an ein so wichtiger Mensch für mich: abgesehen davon das sie unfassbar sympathisch ist war sie bei meiner Entbindung dabei, hatte Jonathan noch vor mir gesehen und ihn ins Leben „geschupst“…ich konnte mit ihr darüber reden, sie Dinge fragen die ich nicht mitbekommen hatte (mein Mann war und ist bei diesem Thema außen vor, er hat es ja leider nicht rechtzeitig zur Geburt ins Krankenhaus geschafft). Ohne sie hätte ich die Eindrücke dieser (nicht schönen) Geburt mit Sicherheit nicht so gut verkraftet und nicht so gut aufarbeiten können. Außerdem habe ich wenige Menschen außerhalb unserer Familie erlebt in deren Augen ein solches Strahlen steht wenn sie mein Kind betrachten, die ihn so bedingungslos annehmen und lieben…Deswegen bin ich sehr froh und dankbar das wir bis heute in Kontakt stehen: sie besucht Jonathan so oft es ihr möglich ist. DANKE DAS ES DICH IN UNSEREM LEBEN GIBT!!

Ein weiteres Bindeglied zu unserer Zeit in der Klinik ist ein Pfleger der Frühchenstation. Mit ihm war ich schon Jahre bevor Jonathan sich ankündigte befreundet und er ist mit ein Grund warum wir uns ausgerechnet dieses Krankenhaus ausgesucht haben: denn er ist ein Mensch dem ich vom ersten Moment unserer Bekanntschaft an mein vollstes Vertrauen geschenkt habe. Als die Ärzte die Vermutung äußerten daß wir ein Frühchen bekommen würden stand für mich sofort fest das ich in das Krankenhaus gehen möchte in dem er arbeitet – bei ihm würde ich mich geborgen und gut betreut fühlen. Auch er ist heute noch an unserer Seite und hilft uns wo er kann. DANKE…AUCH WENN ES EIN ZU KLEINES WORT FÜR DAS IST WAS DU FÜR UNS GETAN HAST! ICH WEISS DAS ES NICHT IMMER EINFACH FÜR DICH WAR…GRADE DESWEGEN WERDEN WIR DIR DAS NIE VERGESSEN!!


Diese beiden für uns so wichtigen Menschen waren am Tag unserer Entlassung auf Station, und sie haben mir einen Wunsch erfüllt:
Sie haben sich gemeinsam in die Ausgangstür gestellt nachdem ich mit meinem Mann und Jonathan hindurch gegangen war – beim Blick zurück haben sie uns gewunken….und dieses Bild, diesen Eindruck habe ich mitgenommen und trage ihn bis heute in meinem Herzen. Ein gutes Bild…ein schöner Eindruck…und ein würdiger Abschluß nach dieser wirklich wirklich harten Zeit!!


Zuhause
Das Gefühl nach einer so langen und aufreibenden Zeit durch die Türen der Klinik zu gehen – und zwar MIT unserem Sohn…ich habe keine Worte dafür. Und werde vermutlich auch nie Worte dafür finden. Wahrscheinlich kann das auch nur jemand 100% nachvollziehen der ähnliches erlebt hat.
Mir liefen Tränen über die Backen und ich war UNENDLICH ERLEICHTERT.
Jetzt nur noch: NACH HAUSE!!! Zu MARVIN!!! Meine Jungs sollten sich endlich kennenlernen, spüren, riechen….

Die Autofahrt war mir noch nie so lang vorgekommen wie an diesem Tag! Am liebsten hätte ich Flügel an meinem Auto ausgeklappt damit es schneller geht. 8o))

Und dann: endlich!!! Nach fast 5 Monaten!!! Durch die Haustüre in die Wohnung und da kam Marvin schon angerannt (er war eine halbe Stunde vorher von seinem Opa nach Hause gebracht worden wo er den Tag verbracht hatte). Ich weiß nur noch das er in Dauerschleife „Mein Bruder!!! Mein Bruder!!“ gerufen hat…dann hat er sich neben das MaxiCosi gesetzt, Jonathan angefasst und…geweint…

Da ist mir wirklich sehr deutlich bewußt geworden wie sehr auch ER gelitten hat in dieser Zeit! Wie hart es sein muß ein Geschwister zu haben das man nicht kennt…das aber die Eltern voll in Beschlag nimmt – und um das sich fast alles im täglichen Leben dreht!!

Ich hatte vorher ein bißchen Angst wie die Beziehung der beiden werden würde: erstens waren sie 9 Jahre auseinander und zweitens war Jonathan jetzt schon ein paar Monate alt und Marvin kannte ihn gar nicht – hatte das der Bindung geschadet??? Als ich nun sah wie erleichtert auch Marvin war seinen Bruder bei sich zu haben…wie er Jonathan ansah…wie er ihn liebevoll in den Arm nahm und anhimmelte…da wußte ich das ich mir keine Sorgen zu machen brauchte!! Und bis heute ist er ein SUPER großer Bruder!!


Mein Mann hatte ein paar Tage Urlaub genommen (seine Elternzeit begann erst in einigen Wochen) so daß wir die erste Zeit zu Hause wirklich alle gemeinsam genießen konnten.
Es war alles sehr aufregend….und unglaublich schön!!! Füttern, Medikamente geben, Blutdruck messen: es hat alles wunderbar geklappt, wir hatten in der Klinik ja auch geübt!!


Was wir aber direkt beschlossen haben als wir heimkamen: wir versuchen mal ohne die Magensonde klarzukommen!! Wir hatten es beide gehasst sie zu legen und zumindest ich hatte auch ein wenig Angst das zu Hause ohne die „Aufsicht“ und „Kontrolle“ von erfahrenem Fachpersonal machen zu müssen. Also haben wir überlegt wie wir die Medikamente am sinnvollsten verabreichen könnten und uns dann entschieden sie in ein wenig Saft zu geben und die Mischung dann mit der Spritze direkt in den Mund zu spritzen. Wir haben für uns beschlossen: wenn das drei Tage lang funktioniert OHNE daß wir die Sonde brauchen – dann wird sie gezogen…

Über alle Medikamentengaben, Mahlzeiten und Blutdruckmessungen haben wir Buch geführt um uns einen Überblick zu verschaffen: wie viel Nahrung nimmt Jonathan auf? Wann müssen wir welche Medikamente geben und haben wir dabei den Abstand zu den Mahlzeiten korrekt eingehalten??? Manche Medikamente müssen auch zu bestimmten Uhrzeiten (im 12-Stunden- oder 24-Stunden-Takt) gegeben werden: haben wir heute daran gedacht???? Ist sein Blutdruck höher wenn er grade gegessen hat??? Wie ist sein Blutdruck überhaupt, wirkt das Medikament???
(Es hat eine Zeit gedauert das alles zu verinnerlichen: heute geht das ohne darüber nachzudenken!!)

Nach drei Tagen haben wir festgestellt das wir die Sonde nicht benutzt haben: also raus mit dem Ding!! Sieht sowieso „scheiße“ aus: so ein Schlauch im Gesicht!! 8o))
Wenn wir da schon gewußt hätten was wir zwei Wochen später in der Klinik erfahren haben!


Freitag, 16. Juni 2017

Ich war wütend…enttäuscht…und ungeduldig. Wie lange würde sich das jetzt hinziehen?? Ich hatte doch so fest damit gerechnet daß die Zeit in der Klinik bald vorbei sein würde! Wieso hatten die Ärzte eigentlich nicht eher festgestellt daß bei Jonathans Herz nicht alles ok war?? Warum in letzter Minute wo man quasi schon mit einem Bein aus der Krankenhaustür heraus war???


Aber gut: es änderte jetzt nichts sauer zu sein. Nun mußten wir eben noch ein bißchen Geduld aufbringen! Immerhin versuchten die Ärzte für uns ein gebrauchtes Blutdruckmessgerät zu finden, das würde schneller gehen als auf ein neues Gerät zu warten.


An dieser Stelle dann auch mal ein ganz großes Lob an das Team unserer Frühchenstation!!! Alle dort haben versucht uns die Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten: Jonathan hat einen CD-Player bekommen um Musik hören zu können…wir haben „Spielsachen“ wie eine Kinderwagenkette bekommen und durften auch ein paar Sachen (die man gut desinfizieren konnte) selber mitbringen um ihn ein wenig zu beschäftigen und uns den Anschein von Normalität zu geben. Und das allerallerbeste: man hat uns einen Kinderwagen zur Verfügung gestellt damit wir – mit einem transportablen Überwachungsmonitor ausgestattet- auf dem Balkon spazieren gehen konnten. Das war einfach…überwältigend!!! Zwar immer nur ums Haus herum und wieder zurück, stets an der Station entlang…aber trotzdem: wir konnten spazieren gehen! Hatten einige Zeit für uns, ohne die nervigen Geräusche…waren einfach mal mit unserem Sohn allein: wie „normale“ Eltern eben. Es war so wichtig und so toll für uns!!! Vielen Dank das ihr das möglich gemacht habt!


Grade mir hat das wieder ein wenig Kraft gegeben auch weiterhin durchzuhalten…auch wenn ich immer häufiger Wehmut verspürt habe. Ich wollte auch endlich ein „normales“ Leben: wollte meine beiden Jungs zusammen sehen und nicht immer getrennt. Wollte unser Leben endlich selbst in die Hand nehmen und nicht mehr „abhängig“ sein von anderen Menschen und deren Entscheidungen. Fragte mich oft warum es nicht reichte das Jonathan „anders“ war: warum mußten wir auch noch dieses Martyrium aushalten monatelang in dieser Klinik „eingesperrt“ zu sein?? Oftmals hätte ich einfach losschreien wollen vor Wut…


Zumindest haben wir diese Wartezeit genutzt um uns auf das Leben mit Jonathan zu Hause vorzubereiten. Die Schwestern auf Station hatten –natürlich!- viel mehr Erfahrung als wir wenn es um das Leben mit Behinderten geht. Sie haben uns zum einen darauf vorbereitet daß wir viele Blicke und auch Kommentare würden ertragen müssen. (Was wir dann im Alltag wirklich erlebt haben werde ich später erzählen, es ist haarsträubend!!). Zum anderen wurden von Schwestern und Ärzten auch immer wieder Kommentare fallen gelassen zu Jonathans gesundheitlicher Situation, was uns also erwarten würde – zu was er in der Lage sein würde, oder eben auch nicht.


Schade finde ich das es nicht ein langes Gespräch gegeben hat in dem EINFACH ALLES von vorne bis hinten erläutert wurde!!! Das mag vielleicht an der fehlenden Zeit auf dieser Station liegen oder auch daran das man uns nicht zu viel auf einmal zumuten wollte…doch habe ich bis heute einen bitteren Beigeschmack wenn ich mich daran erinnere wie ich von Jonathans Leistenbruch erfahren habe: beim Wickeln fiel mir auf das ein Hoden wirklich SEHR geschwollen war. Daraufhin habe ich die mich an diesem Tag betreuende Schwester gefragt was da los sei. Und sie war ganz entsetzt: „Hat Ihnen denn noch niemand gesagt das er einen Leistenbruch hat???“…solche Situationen geben einem als Eltern das Gefühl unwichtig zu sein in dieser Maschinerie Krankenhaus. Und es schockt einen viel mehr als wenn direkt ein Gespräch gesucht worden wäre, denn nun habe ich mich permanent gefragt: WAS VERSCHWEIGEN DIE ÄRZTE MIR NOCH??


Zu Jonathans Gesamtsituation bekamen wir in dieser Zeit (nach und nach!) folgende Prognosen:
-Er würde geistig nicht normal sein, die Hirnschädigungen seien einfach zu massiv. Was er allerdings schlußendlich lernen könne und was nicht – das stehe ein bißchen in den Sternen.
-Mit Sicherheit sagen könne man aber das er nicht in der Lage sein würde seine Hände und Beine zu koordinieren, weil sein Balken fehlt. Also:
1. Er würde vermutlich nicht krabbeln oder laufen können.
2. Er würde keine Gegenstände mit zwei Händen zugleich aufheben können.
3. Er würde nicht klatschen können.
4. Er würde keine Gabel/keinen Löffel zum Mund führen können.
-Sprechen lernen sei auch eher nicht machbar: eine, zudem sehr große Zyste, sitze genau am Sprachzentrum.
-Wir müssten mit Krampfanfällen rechnen
-Die frühe Sterblichkeit dieser Kinder ist Teil des Gendefekts und es gibt kein Mittel dagegen.


Ja….ich glaube zu dieser Prognose brauche ich jetzt nicht viel zu sagen: jeder der Kinder hat wird verstehen was einem durch den Kopf geht wenn sich nach und nach solch ein Bild aufbaut!! Aber: DAS LEBEN IST KEIN PONYHOF, wir schluckten die Angst und die Traurigkeit herunter…und dann ging es weiter!!!


Ein Punkt der mir damals große Hoffnung gab waren Jonathans Augen. Ich hörte zwar immer wieder daß sein Gehirn massiv beeinträchtigt war (es wurden zwischendurch immer mal wieder Ultraschalluntersuchungen vom Gehirn gemacht die zeigten das sich an der Gesamtsituation nichts änderte), aber seine Augen blickten immer wacher und neugieriger durch die Gegend!! Er nahm Gegenstände wahr die man ihm vors Gesicht hielt und folgte ihnen auch mit den Augen. Wenn wir uns über ihn beugten lächelte er immer öfter. Und: ihm wurde zunehmend langweiliger!!! Er wollte beschäftigt werden, nur dann war er ruhig und ausgeglichen. Das alles kannte ich von meinem großen Sohn nur zu gut!! Und der ist wirklich ein sehr sehr cleverer Kerl geworden!! Also habe ich angefangen auf meinen Instinkt zu vertrauen und habe jedem (auch denen die es NICHT hören wollten!) immer wieder gesagt: „Jonathan ist geistig nicht sooo stark eingeschränkt, seine Augen sind wach und neugierig. Ich WEISS es einfach, denn ich sehe es doch an seinem Blick.“


Ich wußte es natürlich NICHT…aber ich HOFFTE daß ich Recht hatte!! Denn wo ich zu Anfang absolut gegen ein behindertes Kind gewesen war…hatte ich nun nur noch den Anspruch das Jonathan wenigstens seine Umwelt wahrnehmen und am Leben als solches mit Freude teilnehmen sollte…das er mich/uns erkennen würde und einfach glücklich sei. Mein Mann und ich haben uns damals vorgenommen: wir müssen Jonathan MINDESTENS einmal am Tag zum Lachen bringen, dann ist es gut!


Und noch etwas haben wir uns schon in dieser Zeit vorgenommen (und bis heute auch umgesetzt): wir schieben NICHTS mehr auf die lange Bank!!!
Wir sind früher immer gerne gereist, waren ständig unterwegs – haben Städtereisen gemacht, Museen und Sehenswürdigkeiten oder Freizeitparks besucht. Unsere Freunde haben oft gelacht und gefragt wann wir mal ZU HAUSE sind.
Und das wollten wir weiterführen: wir wollen Jonathan die Welt zeigen! Er soll Berge sehen und das Meer…er soll Tiere beobachten…Kirchen oder Museen besuchen. Er soll Karussell fahren und reiten…es gibt so unendlich viele Dinge die das Leben lebenswert machen!! Und wir wollen ihm alles ermöglichen was aufgrund seines Gesundheitszustandes machbar ist, damit so viel Freude wie möglich in sein Leben gepackt wird. Wir wissen nicht wie viel Zeit uns mit ihm bleibt, deswegen machen wir alles was uns möglich erscheint: SOFORT.


Heute ist er zwei Jahre alt und wir haben schon einiges mit ihm unternommen…doch davon werde ich erst später berichten! 8o)))


Zuerst muß ich wieder zurückkehren in die Zeit in der Kinderklinik, wo wir immer noch auf die Entlassung warteten. Ungeduldig auf die Entlassung warteten, das möchte ich an der Stelle betonen!!


Irgendwann war es dann tatsächlich so weit: ein gebrauchtes Blutdruckmeßgerät für uns war gefunden!! Wir bekamen noch eine Einweisung wie das Gerät zu benutzen war, es war wirklich nicht schwierig. Die Herausforderung hierbei war das Jonathan stillhalten mußte während der Messung: und sagen Sie das mal einem knapp 5 Monaten alten Baby!!! Einige Leute werden jetzt vermutlich sagen das man im Schlaf messen könnte, das sei dann sicherlich einfacher. Das ist natürlich richtig. Aber leider hat man dann nur den Blutdruck in der Ruhe, und es braucht auch einen Blutdruck im wachen Zustand….aber gut: wenn das unsere einzige Herausforderung wäre wären wir ja froh!! Wir würden das schon hinbekommen!!


Ich bin nicht mehr ganz sicher was den zeitlichen Ablauf angeht, aber ich glaube irgendwann um diese Zeit herum hatte ich dann ein weiteres Gespräch mit unserer Humangenetikerin und unserer Stationsärztin – mein Mann war an diesem Tag leider dienstlich verhindert. In diesem Gespräch habe ich  gesagt daß ich kein „um den heißen Brei herumreden“ möchte, das sie die Fakten auf den Tisch legen sollen weil ich viel besser damit umgehen kann wenn ich weiß woran ich bin. Auch wenn die Fakten nicht schön sein werden – muß ich mich dem aber doch stellen!!


Nun habe ich erfahren das man davon ÜBERZEUGT sei das Jonathan MOPD Typ 1 habe – das war jetzt keine Überraschung für mich, das hatte ich sowieso nach meinen Recherchen im Internet erwartet. Die Genanalyse sei nur eine Formsache. Gleichzeitig hat man unsere Einwilligung eingeholt das Röntgenbilder und Details zur Krankengeschichte sowie Fotos in einer zentralen Datenbank über verschiedene Formen des Kleinwuchses in Freiburg gespeichert werden dürfen – die Einwilligung haben wir gerne gegeben!! Wir brauchten nur an den Bericht über das Mädchen mit Elektrolytverlust zu denken – der hatte uns auch sehr geholfen. Wenn wir also irgendwann jemandem durch die Speicherung unserer Daten helfen können, dann war Jonathans Leben nicht umsonst.


Ich habe noch einige Informationen bezüglich der Krankheit bekommen, kann mich aber nicht mehr an alles erinnern denn eine Information hat sich bei mir eingebrannt und alles andere überdeckt.


In den 200 Jahren in denen diese Krankheit bekannt ist hat es nur knapp 40 Fälle weltweit gegeben – und so gut wie alle diese Kinder sind an Infekten gestorben. An Fieber…an Magen-Darm-Viren…an Erkältung und Grippe. Die Medizin hat dafür noch keine Erklärung gefunden, bei den wenigsten Kindern wurden Autopsien erlaubt und so weiß man nicht genau warum diese (eigentlich harmlosen) Erkrankungen MOPD-Kinder das Leben kosten. Einige dieser Kinder waren sogar in Kliniken gebracht worden – aber die Ärzte dort konnten nichts für sie tun. Das war jetzt nicht unbedingt eine Information die Mut machte!! Sollten wir bei jedem Schnupfen Panik bekommen und eine Klinik aufsuchen??? Besser als das wäre es natürlich wenn wir Infekte weitgehend vermeiden könnten. Dann würden wir uns erst gar nicht in solche eine Lage bringen!! Denn bei Jonathan kam der Elektrolytverlust hinzu und wenn er dann noch einen Magen-Darm-Infekt bekommen würde….es konnte ja keiner abschätzen was das für Auswirkungen auf seinen Körper haben würde!


Also legte man mir nahe mich -soweit es möglich ist- von Babys und  Kindergartenkindern fernzuhalten, denn diese haben nun mal besonders viele Infekte – und auch wenn die Kinder selbst keine Symptome haben können sie doch Überträger sein. Ein weiteres Risiko seien große Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen, besonders zu Jahreszeiten in denen Erkältungskrankheiten grassieren.


Jeder Infekt den Jonathan NICHT bekommt ist gut!! Denn das Problem bei der Sache ist: keiner, wirklich KEINER kann uns sagen ob es das Leben unseres Sohnes verlängert wenn er seltener krank ist. Es gibt zu wenige Erfahrungen mit der Krankheit um in diesem Punkt eine verlässliche Aussage treffen zu können. Deswegen: lieber auf Nummer sicher gehen, denn wer riskiert schon absichtlich das Leben des eigenen Kindes???


Was bedeutete das nun für unser Leben??? Große Veränderungen und Umstellungen!! Denn sowohl mein Mann als auch ich haben je zwei Patenkinder – und nur ein Patenkind war bereits eingeschult worden, meine Patentochter jedoch war zum Zeitpunkt von Jonathans Geburt noch nicht mal ein Jahr alt!!


Wir wußten jetzt wie gefährlich Infekte für unser Kind sein können und haben deswegen eine rigorose Entscheidung getroffen: es darf leider niemand mit Kindern unter Schulalter zu uns kommen. Punkt. Es ist uns einfach zu riskant denn die Kinder können Krankheiten in sich tragen von denen man noch nichts weiß – sie könnten Jonathan aber trotzdem damit anstecken. Außerdem muß jeder der uns besuchen kommen möchte gesund sein: beim leisesten Halskratzen oder Unwohlsein verschieben wir das Treffen. Diese Entscheidung hatte natürlich immense Auswirkungen auf unseren Freundeskreis und auch auf unser soziales Leben - doch das ist ein Thema das zu einem späteren Zeitpunkt eine größere Rolle spielen wird.


Für den Moment waren jetzt aber alle medizinischen Details und Fakten besprochen, und endlich wurde ein Tag für die Entlassung festgelegt…..



Samstag, 10. Juni 2017

Da die Humangenetikerin die Vermutung MOPD Typ 1 geäußert hatte fingen mein Mann und ich an im Internet zu recherchieren, wir wollten genauer wissen was das für eine Krankheit war und was uns erwartet wenn sich der Verdacht bestätigt.

Grundsätzlich war diese Recherche ein Schock!! Neben diversen gesundheitlichen Problemen die mit diesem Gendefekt zwangsläufig einhergehen war die geringe Lebenserwartung das schlimmste für uns: nur 9 Monate im Durchschnitt!! Ich war am Boden zerstört…konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen…war wie in Watte gepackt und nahm meine Umgebung nur durch einen Nebel wahr. GENAU DAS war doch der Grund warum ich kein behindertes Kind wollte!! Wieso passierte das nun also ausgerechnet MIR??? Wie sollte ich DAS Marvin beibringen??? Er hatte schon seinen Vater verloren, nun also auch noch seinen Bruder???

Drei Tage…drei Tage lang bin ich nicht in die Klinik gefahren. Habe mich zu Hause verkrochen, habe geweint…habe gehadert mit meinem Schicksal…hätte Jonathan gerne einfach „umgetauscht“…wollte ungeschehen machen was passiert ist, ihn verleugnen...(ich bin nicht stolz darauf, aber genauso war es nun mal!).

Ich habe in diesen Tagen nicht mit vielen Menschen geredet, aber die mit denen ich gesprochen habe sagten Dinge wie: „Das schaffst Du schon!! Du bist doch stark, hast schon ganz andere Situationen im Leben gemeistert! So schlimm ist ein behindertes Kind doch gar nicht…und wir sind auch immer für Dich da!“ (Sätze in dieser Art hatte ich auch von den Schwestern in der Klinik schon gehört nachdem wir erfahren hatten das Jonathan behindert sein wird: „Man wächst mit seinen Aufgaben und man lernt auch ein solches Kind zu lieben!! ….wenn es mal schwierig wird dann kann man sich Hilfe holen durch eine entsprechende Einrichtung, da kann man zur Not das Kind auch betreuen lassen.“)

…ich habe diese Sätze gehört und ich wußte daß sie gut gemeint waren. Das diese Menschen mir zeigen wollten das sie an meiner Seite stehen und mich unterstützen. Das sie mir Optionen aufzeigen sollten die ich TROTZDEM noch habe, das mein Leben trotz allem noch lebenswert und schön sein kann.  Aber…mir ging, wenn ich sowas hörte, immer nur durch den Kopf: „Woher willst Du das denn wissen??? Du kannst doch nicht in mich hineinblicken und weißt gar nicht wie schlimm diese Situation für MICH ist!! ICH bin diejenige die in Zukunft tagtäglich damit leben muß – nicht DU!!! Als Außenstehender hat man ja gut reden!!!“

Zu diesem Zeitpunkt war ich felsenfest davon überzeugt das ich dieser Situation NICHT gewachsen war!!! Ich würde mich NIEMALS damit arrangieren können ein behindertes Kind zu haben…NIEMALS!! Mein Leben würde so ganz anders sein als bisher..

Mein Mann hat mich dann wortwörtlich „in den Arsch getreten“. Er hat mir gesagt das ich genau ZWEI Möglichkeiten habe: entweder ich fahre in die Klinik und kümmere mich um Jonathan…oder wir geben ihn zur Adoption frei – aber dann müsse ICH die Papiere dafür besorgen. Nun ja…mein Mann weiß eben welche Worte ich brauche und mir wurde bewußt: mein Kind ist da und es LEBT!!!! Es ist nicht so wie ich es mir vorgestellt habe, es ist behindert und unser gemeinsamer Weg wird nicht leicht – aber es ATMET und es LEBT und es WILL AUCH LEBEN…es ist EGAL was ICH wollte oder was ICH mir vorgestellt habe, nicht ICH konnte entscheiden – die Situation ist jetzt wie sie ist und NIEMAND auf der Welt wird es mehr ändern können….also bin ich am nächsten Tag zu Jonathan gefahren…

Und von diesem Moment an habe ich mein Schicksal angenommen und begonnen ihn bedingungslos zu lieben!! 8o)))

(Ein Wort noch zu meinem Mann und seinem Umgang mit dieser Situation. Von Anbeginn der Schwangerschaft an hat er gesagt das er sein Kind annehmen wird wie auch immer es ist – ER brauche keine Vorsorgeuntersuchungen. Als dann feststand das der Kleine behindert sein wird hat mein Mann einen Satz zu mir gesagt der seitdem viele Menschen, vor allem einige Schwestern auf unserer Station!, zum Weinen gebracht hat: „Es ist mir egal wie er sein wird – und wenn er nur mit einem Hammer auf Holzklötzchen hauen kann und sonst nichts…dann setze ich mich eben dazu und hämmere auch auf Holzklötzchen!“ …ich habe heute noch den größten Respekt vor dieser seiner Einstellung. Rückblickend kann ich sagen: mein Mann hat die Situation wirklich bedingungslos angenommen und NIE, auch nur EINEN TAG, mit seinem Schicksal gehadert. Die Aussage mit der Adoption war NIEMALS ernst gemeint von ihm: er hat gewußt das er mich so dazu bewegen wird in die Klinik zu fahren und mich um Jonathan zu kümmern!)

Mich hat die Situation Demut gelehrt. Demut davor das ich ÜBERHAUPT NICHTS in meinem Leben selber entscheiden kann! Ich, die geglaubt hat das eine Fruchtwasseruntersuchung die 100%ige Möglichkeit ist eine Behinderung auszuschließen und mein Leben so zu leben wie ICH mir das vorstelle, wurde eines besseren belehrt: das alles wird an viel höherer Stelle entschieden. Ich kann nur versuchen das anzunehmen und das Beste daraus zu machen! Kopf hoch und nach vorne blicken!!! Rumjammern bringt nichts, es ändert sich dadurch NICHTS!!

Ein Satz den mein Sohn Marvin und ich uns nach dem Tod seines Vaters immer wieder gegenseitig gesagt haben wenn wir traurig waren („Das Leben ist kein Ponyhof!“) bekam nun wieder einen Platz in unserem Alltag. Wurde ein Ansporn für uns. Wurde ein Halt: wir fühlen als Familie alle das Gleiche, und zusammen schaffen wir das!!

Als mir das alles klar geworden war…habe ich mich erneut mit der Krankheit auseinandergesetzt. Denn auch wenn die Hoffnung noch vorhanden war das die Ärzte und die Humangenetikerin sich getäuscht hatten – tief in meinem Inneren wußte ich daß sie Recht hatten. Dafür mußte ich nur lesen was laut Internet die Anzeichen dieser Erkrankung waren:

-ein kleiner Kopf
-diverse Hirnfehlbildungen wie: fehlender Balken, multiple Zysten und fehlende Gyrierung des Gehirns
-kurze Oberarm- und Oberschenkelknochen
-eine prominente (sprich: große und auffällige) Nase
-prominente Augen
-das Fehlen von Haaren und Augenbrauen
-zu kleine und zu dicke Hände und Füße: die Hände sehen aus wie kleine Maulwurfspfötchen (der Zeigefinger und der kleine Finger sind jeweils nach innen gebogen) und die Füße wie die der Comicfigur Pumuckl (ein sehr steiler Rist und eine zu ausgeprägte Ferse) 
-kurze und spitz zulaufende Finger mit sehr stark gebogenen Nägeln
-das fast permanente Runzeln der Stirn


All das traf auf Jonathan zu! Als ich dann auch noch auf ein Foto eines MOPD-Babys gestoßen bin…war ich mir absolut sicher. Dieses Baby war unserem Baby wie aus dem Gesicht geschnitten. Es war beängstigend und faszinierend zugleich. Wenn ich nicht gewußt hätte das das auf dem Foto nicht mein Sohn sein KANN – dann hätte ich es geglaubt.

Also suchten wir weiter nach Berichten, vor allen Dingen wollte ich andere Betroffene finden. Ich wollte REDEN! Mit anderen betroffenen Müttern, sie fragen wie für sie die Zeit war nachdem sie diese Diagnose bekommen hatten…wie das Leben mit einem solchen Kind ist…wie sie mit der Angst umgehen das jeder Tag der letzte Tag mit ihrem Baby sein kann.
Doch die Recherche gestaltete sich sehr schwierig: es gab kaum Internetseiten über MOPD TYP 1 und wenn, dann waren sie auf Englisch und legten nicht viel mehr als die oben genannten Fakten dar. Es gab keine Berichte von betroffenen Familien, es gab keine YouTube-Kanäle und keine Zeitungsberichte. Das mag einfach daran liegen das diese Krankheit das erste Mal vor über 200 Jahren in der Medizin beschrieben wurde und es seitdem WELTWEIT nur 40 Betroffene in 30 Familien gegeben hat. Es gibt also kaum Vergleichsfälle, viele Facetten dieser Krankheit sind schlichtweg unerforscht.

Dann fiel mir wieder ein was unsere Humangenetikerin gesagt hatte: sie hatte vor circa zwei Jahren ein Kind in der gleichen Klinik betreut das diese Krankheit auch hatte!!! Wenn dieses Kind also in der gleichen Klinik war…dann wohnte die Familie vielleicht auch nicht so weit weg??? Ich hatte richtiges Herzklopfen: vielleicht könnte ich bald mit einer anderen Mutter reden die mich VOLLKOMMEN verstehen würde?? Von der ich lernen könnte und mit der ich mich austauschen könnte wie mit niemandem sonst. Doch natürlich, der Datenschutz!…bekam ich im Krankenhaus keine Auskünfte über diese Familie. Ich habe dann meine Kontaktdaten aufgeschrieben und die Humangenetikerin gebeten diese an die betroffene Familie weiterzugeben damit SIE MICH kontaktieren könnten. Es sei mir ein großes Anliegen!! Und dann hieß es in dem Punkt: abwarten was passiert und ob sich jemand meldet….

Doch zunächst ging für uns die Zeit in der Kinderklinik weiter.
Jonathan machte uns Sorgen: bei Bluttests (die regelmäßig durchgeführt wurden) stellten die Ärzte fest das Jonathans Blut „sauer“ wurde – sprich: sein PH-Wert war nicht gut, er verlor Elektrolyte. Also bekam er oral täglich mehrere Male verschiedene Elektrolyte zugeführt – aber an seinem Blut änderte sich dadurch nur minimal etwas: er blieb „sauer“. Nun testete man seinen Urin und stellte fest daß er über diesen scheinbar unkontrolliert Elektrolyte ausschied. Die Ärzte hatten keine Ahnung warum das so war, sie vermuteten eine Stoffwechselstörung. Also wurden Tests veranlaßt – die jedoch ohne Ergebnis blieben, am Stoffwechsel lag es also nicht. Sollten es etwa die Nieren sein?? Die Ärzte wußten es nicht…

Da wir irgendetwas tun MUSSTEN und nicht einfach tatenlos herumsitzen konnten…und da wir im Gegensatz zu den Ärzten etwas mehr Zeit hatten im Internet zu surfen: haben wir das getan. Und sind tatsächlich auf einen interessanten Bericht aus England gestoßen! (Zum Glück sind sowohl mein Mann als auch ich des englischen mächtig sonst hätten wir nicht begriffen wie wichtig dieser Bericht für uns ist!) Darin erzählte eine Mutter von ihrer an MOPD Typ 1 erkrankten Tochter die zeitlebens unter einem unkontrollierten Elektrolytverlust gelitten habe!! Da dieses Mädchen scheinbar bisher die Einzige beschriebene MOPD-Patientin mit Elektrolytverlust war, haben die Ärzte einiges ausprobiert um ihr zu helfen – doch nichts hat gefruchtet. Schließlich wurde der Kleinen ein Port gelegt über den sie einmal wöchentlich in der Klinik per Infusion eine Elektrolytlösung erhalten hat. Sie wurde damit immerhin 7 Jahre alt!
Wir haben diesen Bericht ausgedruckt und unserer Stationsärztin gegeben, die zum Glück auch Englisch spricht. Sie hat sofort erkannt wie immens wichtig dieser Bericht für uns ist und sich mit einem Nephrologen (Nierenarzt) kurzgeschlossen. Kurze Zeit schwebte wohl auch bei uns der Gedanke an einen Port im Raum, doch zu diesem Zeitpunkt hatte Jonathan (wenn ich mich richtig erinnere!) noch keine 1,5 Kilogramm und dieser Eingriff wäre für ihn ungeheuer gefährlich gewesen. Aber zu unserem wahnsinnigen Glück hatte der Nephrologe dann eine Idee: es gebe ein Medikament das (laienhaft ausgedrückt) dazu führe das die Elektrolyte besser im Körper gespeichert würden, dieses Medikament sei in den USA auf dem Markt und könne für uns beschafft werden: es nennt sich CALCITRIOL. Und was soll ich sagen??? Es hat funktioniert!!! 8o))) Seit Jonathan dieses Medikament regelmäßig einmal am Tag bekommt kann sein Körper die Elektrolyte (die wir aber trotzdem weiterhin täglich oral verabreichen müssen) besser speichern. Leider habe ich bis heute keine Ahnung wie der Nephrologe heißt oder wo er arbeitet, aber an dieser Stelle sei Ihnen gesagt: VIELEN DANK!! Ich weiß nicht ob mein Sohn ohne Sie heute noch bei mir wäre!

Jetzt hatten wir dieses Problem aus der Welt geschafft und atmeten durch. Ich muß sagen: wirklich gravierende Probleme hatten wir mit Jonathan zu Klinikzeiten ansonsten nicht. Natürlich hatte er viele Probleme die Frühchen eben haben: er hat mehrere Bluttransfusionen gebraucht, er hatte eine beginnende Netzhautablösung in einem Auge, er hatte häufig Herzfrequenzabfälle, einen Leistenbruch, ein Foramen Ovale: ein Loch in der Herzscheidewand das sich bei ihm selbst geschlossen hat, konnte seine Körpertemperatur nicht halten und hatte zu Beginn Probleme seine benötigte Milchmenge selbstständig zu trinken (wir reden heute noch über den einstmaligen REKORD von 8ml die er selbstständig getrunken hat). Aber das ist alles typisch für Frühchen! Ansonsten konnten wir nicht klagen: es gab keine Hirnblutungen, keine Herzstillstände, keinen nekrotisierenden Darm – er war stabil und kämpfte sich Tag für Tag weiter ins Leben! 8o))
Natürlich hat er kaum zugenommen und ist auch fast nicht gewachsen: am 14.06.2015, mit circa 7 Wochen, hat er erst 1 Kilo auf die Waage gebracht und hatte etwas über 30cm Körperlänge.

Und das war ein Punkt über den ich mir Gedanken zu machen begann: das wir lange – SEHR LANGE- hier sein würden war mir klar! Aber normalerweise wurden die Babys erst mit 2,5 Kilo von der Frühchenstation entlassen. Wenn er also knapp 7 Wochen brauchte um 500g zuzunehmen – wie lange sollte es dann dauern bis er nochmal 1,5 Kilo zugelegt hätte und wir heim dürften???? Aber hier gab die Stationsärztin Entwarnung: natürlich müsse man bei uns andere Maßstäbe setzen als bei „normalen“ Frühchen. Auf das Gewicht werde bei Jonathan weniger Augenmerk gelegt „sonst sind Sie in zwei Jahren noch hier!“.

Allerdings müsse er für eine Entlassung nach Hause in der Lage sein seine Körpertemperatur alleine zu halten, seine Nahrung allein aufnehmen können, er dürfe keine Herzfrequenzabfälle mehr haben, seine Blutwerte müssten gut sein und….mein Mann und ich müssten in der Lage sein ihm Magensonden (durch die Nase) zu legen, zu ziehen und zu benutzen damit die Medikamentengabe auch sichergestellt sei.

Mittlerweile bekam er 3 verschiedene Elektrolyte und die jeweils 3x am Tag, zusätzlich das schon erwähnte Calcitriol, Vitamin D und Eisen. Manchmal wurde die Magensonde auch genutzt um ihm seine Milch zu „sondieren“, wenn er einfach zu müde und erschöpft war allein zu trinken.

Also…lernten mein Mann und ich eben Magensonden legen – an unserem eigenen Kind….einfach war es nicht, das soll hier mal gesagt sein! Jonathan hat natürlich geschrien und sich gewunden: angenehm war es für ihn mit Sicherheit auch nicht wenn jemand ohne Medizinische Vorkenntnis versucht einen Schlauch durch Nase und Rachen bis in den Magen zu schieben – zwischendurch auch mal „hängen bleibt“ und von vorne beginnen muß.  Natürlich hatten wir vor der Praxis theoretische Einweisungen: haben WUNDERSCHÖNE Schaubilder gemalt bekommen… (Der Betreffende wird jetzt wissen daß er gemeint ist!) Wurden aufgebaut das das gar nicht sooo schwierig sei und wir das schon schaffen würden – wir wollten ja schließlich auch heim mit unserem Kind! Aber Theorie und Praxis sind bekanntermaßen was ganz anderes…Während ich mit der Sonde „arbeitete“ war ich immer ruhig und habe versucht alles um mich herum auszublenden, gar nicht daran zu denken das das MEIN KIND ist….danach allerdings hat mein Herz geklopft, mein Mund war trocken und ich war PATSCHNASS geschwitzt! (Von unserem Lieblingspfleger wurde ich mal aufgezogen und gefragt: „Hast Du ein Wechsel-Shirt im Spind?“). Aber nach ein paar Wochen: ging auch das. Wir konnten nun Sonden legen, ziehen und benutzen, wenn man will schafft man eben alles – und ein weiterer Meilenstein auf dem Weg nach Hause war geschafft.

Jetzt stand: man glaubt es kaum! Die Entlassung an! Wir bekamen Rezepte – VIELE Rezepte! Für Spritzen, Sonden, Medikamente und Nahrung…und haben alles schon mal in der Apotheke bestellt. Die Fläschchen wurden ausgekocht, die Bettwäsche gewaschen, die Kleidung für Jonathan…..

…ja: was war eigentlich mit der Kleidung für Jonathan?? Der kleine Mann hatte nur knapp 37 cm…selbst wenn man im Geschäft Kleidung in Größe 42 FAND: sie war an Armen und Beinen viel zu lang, denn seine Oberarm- und Oberschenkelknochen waren ja verkürzt. Und dann waren diese Mini-Klamotten immer aus dickem Nikkistoff, wenn man das umkrempeln wollte hatte er einen Arm der dreimal so dick war wie normal! Also, was tun??? Nähen kann ich leider nicht und auch niemand den ich kenne. Letztendlich haben wir tatsächlich einen Anbieter von so kleiner Kleidung im Internet gefunden: Kleidung in Größe 38. 8o) Wir mussten es teuer bezahlen - aber wir hatten passende Kleidung!

Nun waren wir gerüstet und der Tag der Entlassung rückte näher! 8o)) Herzklopfen! Besonders bei Marvin: der hatte seinen Bruder bis dahin noch nie gespürt, berührt oder gerochen.

Auch für mich wurde es mittlerweile höchste Eisenbahn diese Station mit meinem Sohn zu verlassen. Ich glaube es waren jetzt knapp 4,5 Monate vergangen (auch wenn sich das hier im Blog alles so komprimiert und kurz anhört!). Und ich war am Ende der Belastbarkeit angekommen…Diese Zerreißprobe zwischen zu Hause (Marvin) und Klinik (Jonathan), die Gerüche und Geräusche in der Klinik, der SEHR begrenzte Bewegungsradius - den man einfach hat wenn das Kind an einer Sauerstoffüberwachung hängt, das Gefühl das man nicht selbst für das eigene Kind entscheiden darf sondern immer „Anweisungen“ von den Ärzten und Schwestern bekommt…und natürlich ganz stark auch das Gefühl das die Familie nicht komplett ist weil einer nie dabei ist…das alles wurde langsam zu viel für mich. Immer öfter habe ich die komplette Autofahrt von der Klinik nach Hause (immerhin knapp 80km) geweint…war unruhig und aufgedreht…bin durch die Wohnung getigert…habe keinen Schlaf gefunden… Die Gesamtsituation ist mir über den Kopf gewachsen, doch als ich hörte das ich mein Baby bald mitnehmen darf habe ich die letzten Kräfte mobilisiert und auf diesen Tag hingearbeitet!!!
Doch dann….wurde die Entlassung verschoben, denn es gab Probleme mit Jonathans Herz und seinem Blutdruck. Letzterer war zu hoch, bei ihm wurde mittlerweile mindestens dreimal am Tag Blutdruck gemessen. Beim Herzen war aufgefallen das eine Herzkammer deutlich größer war als die andere und bevor wir mit ihm nach Hause gehen durften sollte ein Kardiologe sich ein Bild machen.


Dieser kam einige Tage später spätabends, mein Mann war noch in der Klinik und konnte kurz mit ihm sprechen. Unsere Erinnerung ist in diesem Punkt ein wenig verschwommen, aber letztendlich hat Jonathan ein weiteres Medikament bekommen das seinen Blutdruck stabil halten sollte, wir sollten halbjährlich in die Kardiologie-Sprechstunde des Arztes zur Kontrolle kommen und: wir würden ein Blutdruckmessgerät benötigen um auch zu Hause regelmäßig kontrollieren zu können wie die Werte sich unter dem Einfluß des Medikaments veränderten. Das mußte natürlich bestellt werden und das: dauerte….

Montag, 5. Juni 2017

Unsere Geschichte

WARUM? Warum trifft es ausgerechnet MICH? Wie soll mein Leben weitergehen? Und: WERDE ICH DAS SCHAFFEN??? ...
..diese Fragen stellen sich wohl alle Eltern eines behinderten Kindes hunderte, ja tausende Male. Aber: es gibt keine Antworten…
Man muß lernen mit der Situation umzugehen, sie akzeptieren. Die Veränderungen für das eigene Leben, für die Partnerschaft, für die Geschwisterkinder hinzunehmen und nicht nur schlechtes in ihnen zu sehen – man muss lernen ihnen positives abzugewinnen, denn nur so schafft man es weiterzumachen und nicht an der Situation zu zerbrechen.
Mit diesem Blog möchten wir anderen Eltern von behinderten Kindern Mut machen. Ratschläge geben wie WIR es geschafft haben. Eine Plattform schaffen um für das ein oder andere medizinische Problem einen Lösungsansatz zu finden.
Und natürlich: euch unseren Sohn vorzustellen!! Sein Leben soll nicht umsonst sein…

Doch von Anfang an:
Unsere Diagnose lautet
                           MOPD Typ 1.
Einer der seltensten Gendefekte im Kleinwuchsbereich weltweit. Momentan leben in Dtld 3 und weltweit ca 10 Kinder mit diesem Defekt. Und ich sage bewusst KINDER…denn die Lebenserwartung ist sehr gering, oft nur ein paar Monate.
Aufgrund der geringen Anzahl der bekannten Fälle ist diese Krankheit weitgehend unerforscht. Schon einige Male haben wir ratlose Ärzte gesehen die keine Ahnung hatten wie wir gesundheitliche Probleme lösen können.


Die Schwangerschaft
Nach einem gesunden und normal geborenen Kind in 2006 (von einem anderen Vater) wurde ich Ende 2013 wieder schwanger: mit Zwillingen. Leider hielt diese Schwangerschaft nur 12 Wochen.
Ende 2014 wurde ich erneut schwanger und auch diese Schwangerschaft stand von Anfang an unter keinem guten Stern….schon in einer recht frühen Schwangerschaftswoche setzten das erste Mal Blutungen ein. Ein Schock!!!
Die Blutungen kamen und gingen bis zur Geburt. Ich schwankte zwischen strikter Bettruhe, wieder aufstehen dürfen, Arztterminen und auch Krankenhausaufenthalten.
Jeder Ultraschall zeigte aber ein quietschfideles Kind, das die Blutungen scheinbar nicht beeindruckte.
Allerdings: das Baby war immer zu klein, weit unterhalb jeglicher Durchschnittswerte. Zuerst korrigierten die Ärzte den Entbindungstermin zwei Wochen nach hinten. Dann schickten sie mich zur Nackenfaltenmessung: diese blieb ohne Ergebnis, alle Werte sprachen für ein gesundes Baby. Nun wollte man genauer hinschauen, doch eine Fruchtwasseruntersuchung hielten die Ärzte für zu riskant da immer wieder Blutungen auftraten und sie das Baby nicht über die Maßen stressen wollten. Also wurde eine neue Methode zur Chromosomenanalyse durchgeführt: der sogenannte Prena-Test. Hierbei war es lediglich notwendig das MIR Blut abgenommen wurde anhand dessen die Chromosomen des Baby ausgelesen wurden. Auch dieses Ergebnis sprach für ein gesundes Kind.
Doch weiterhin fiel das geringe Wachstum auf. Ich wurde zu Untersuchungen in eine größere Klinik geschickt. Das Ergebnis hier: meine Plazenta sei eine Kugel und viel zu klein, sie könne das Kind offensichtlich nicht ausreichend versorgen. Häufigere Kontrollen seien notwendig, das Baby aber fit und gut durchblutet: also erst mal kein Grund zur Besorgnis!
Bei einer späteren Untersuchung in der Klinik wurden aber auch hier die Ärzte stutzig weil das Kleine einfach nicht richtig wachsen wollte und meine Blutungen stärker als je zuvor wiedergekommen waren. Also entschlossen wir uns gemeinsam mit dem Ärzteteam nun doch zu einer Fruchtwasseruntersuchung – trotz der Risiken. Doch meine Einstellung war: Ich möchte kein behindertes Kind!! Ich kann und will damit nicht leben!!! Und so sollte ebendies ausgeschlossen werden…
..wenn ich damals nur schon das gewußt hätte was ich heute weiß…..

Das Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung zeigte das wir zu 99,9% ein gesundes Kind erwarten – und zwar einen kleinen Jungen! 8o)

Wir wurden von den Ärzten darauf vorbereitet daß wir sehr wahrscheinlich aber ein Frühchen bekommen würden. Da keine Gendefekte gefunden worden waren spreche das geringe Wachstum für eine Unterversorgung durch die Plazenta und das wiederum führe meist zu einer Frühgeburt.

Kurz vor Ende des 7.Schwangerschaftsmonats bekam ich Wehen. Die Frauenärztin schickte mich sofort mit dem Krankenwagen in die Klinik wo ich stationär aufgenommen wurde. Ich bekam einen Wehenhemmer und vorsichtshalber auch eine Spritze die die Lungenreife herbeiführen sollte.

Die Geburt und das erste Kennenlernen
Am nächsten Tag wurden die Werte des CTG schlechter und deswegen entschlossen sich die Ärzte zu einem Notkaiserschnitt. Innerhalb von 20 Minuten lag ich –total überfordert- im Op. Da wir knapp 80 km von der Klinik entfernt wohnen konnte mein Mann nicht rechtzeitig da sein und ich war allein mit dieser Situation die mich an die Grenzen der Belastbarkeit brachte.
Ich durfte meinen kleinen Jungen nicht sehen, er wurde sofort in die Kinderklinik gebracht.
Sein Geburtsgewicht betrug 490g und er war 29cm groß.
Einige Stunden nach der Geburt durfte mein Mann in die Kinderklinik und einen ersten Blick auf ihn werfen….alles was er sagen konnte als er mir berichtete: „ Er ist so unglaublich klein!! Aber auch unglaublich schön!“
Am nächsten Morgen durfte/konnte dann auch ich zu unserem Kleinen. Ich wußte was mich erwarten wird: Kabel, viele Kabel!…Geräte die piepsen…komische Gerüche…und doch war ich geschockt: er war so unfassbar klein!! Und da er sehr unreif war, war auch seine Haut noch nicht „fertig“: sie war dunkel. Zudem war er mit Hämatomen übersäät und man hatte ihn bei der Entbindung auch in die rechte Seite geschnitten…sein Gesicht konnte ich überhaupt nicht sehen denn es war hinter einer Atemhilfe (Cpap) verborgen.
Ich kann nicht wirklich beschreiben was mir durch den Kopf ging als ich das alles zum ersten Mal gesehen habe: von Angst (um mein Baby) über Erleichterung (das die schwierige Schwangerschaft vorbei ist und die Verantwortung für dieses Leben nicht mehr bei mir liegt) zu Panik (diese Klinik, dieser Kasten wird für lange Zeit der Mittelpunkt in seinem Leben sein) zu noch größerer Panik (werde ich es schaffen mit dieser Situation umzugehen?) zu Traurigkeit (das mein Mann bei seinem ersten Kind so etwas erleben muß) …vermutlich kann diese Situation auch nur jemand nachvollziehen der sie selber erlebt hat.
Nachdem der erste Schock überwunden war begann ich den Kleinen genauer zu betrachten und Fragen an die uns betreuende Schwester zu stellen. Mir ist eigentlich sofort aufgefallen das seine Hände und Füße irgendwie…merkwürdig aussahen. Zu klein und zu dick….die Finger und Zehen zu kurz und einfach ganz anders als ich es von meinem großen Sohn, Marvin,  in Erinnerung hatte. Diese Beobachtung sollte noch eine Rolle spielen – doch für den Moment bekamen wir nur die Auskunft das dies bei Frühchen oft der Fall sei: es handele sich um Wassereinlagerungen die noch verschwinden würden.
Die Haut werde in einigen Tagen auch ausgebildet sein und dann könnten wir ihn anfassen, bis dahin: nur ganz leicht an der Handinnenfläche berühren – alles andere verursache ihm Schmerzen. (Doch selbst diese Berührung war für mich grenzwertig: die Haut war klebrig und ich hatte unsägliche Angst ihn zu verletzen.) Die Schnitte werden verheilen, die Hämatome verschwinden.
Die beste Nachricht jedoch war: er atmete von alleine!!! Von Anfang an!!! Er war nie auch nur eine Sekunde lang beatmet, und das mit diesem Gewicht! Er hatte einfach einen unbändigen Willen zu leben! Das machte uns Mut und gab uns Hoffnung….


….schon lange vor der Geburt war natürlich der Name ein Thema in unserer Familie gewesen…nach der Fruchtwasseruntersuchung stand fest es wird ein Junge, die Mädchennamen wurden also verworfen. 8o)
Ich wollte einen PHIL – einen PHIL COLLIN um genau zu sein, denn ich bin riesiger Phil Collins Fan!! Mein Mann fand den Namen „Ok“, aber nicht berauschend. Dann kam mein großer Sohn mit dem Vorschlag JONATHAN – den ich erst gar nicht toll fand. Zu lang, zu holprig, zu hart….doch je länger er mir durch den Kopf schwirrte desto mehr Gefallen fand ich daran. Das ging meinem Mann ähnlich. Aber von Phil lösen konnte ich mich auch nicht so ganz. Also schlossen wir einen Kompromiss: sollte das Baby mit Haaren geboren werden hieße es JONATHAN, sollte es mit Glatze zur Welt kommen hieße es PHIL (sorry an Phil Collins: aber die Haare sind nun mal lichter geworden mit den Jahren!).
Und dann lag ich ihm OP und hatte Angst und zitterte vor mich hin. Die Schwestern wollten mich ablenken und fragten wie der Bub denn heißen soll. Also habe ich ihnen von unserem Kompromiss erzählt und sie …haben sich kaputt gelacht!! 8o) Ich glaube es waren 12 Leute im OP und alle haben sich amüsiert, es war eine tolle Stimmung in dieser schwierigen Situation und ich konnte mich dadurch ein wenig entspannen und fallen lassen. Das haben die Schwestern wohl bemerkt denn sie haben das Thema aufgegriffen und mir gesagt das JONATHAN so viel schöner sei und der Name auch nicht mehr so häufig vorkomme heutzutage. Dann schaute eine Anästhesistin über das Tuch und meinte: „ Es ist ein Jonathan!“, und die andere: „Quatsch, er hat KEINE Haare!“, darauf die erste wieder: „Macht nix, wir sagen dem Papa einfach die sind innerhalb von 5 Minuten alle ausgefallen!“…8o))) Und das haben die Damen auch genauso gemacht….8o))))

Also wurde er Jonathan genannt. Und wir sind heute sehr froh darüber!! JONATHAN kommt aus dem hebräischen und bedeutet frei übersetzt: GESCHENK GOTTES. Und genau das ist er: unser Geschenk Gottes!! Er hat zum einen diese schwierige Schwangerschaft überstanden und sich mit einem Gewicht von nur 490g ins Leben gekämpft, zum anderen ist er eins von nur 10 Kindern weltweit mit dem Gendefekt MOPD Typ 1. Wenn also „Jonathan“ nicht passend für IHN ist, für wen dann?????

Die Zeit in der Kinderklinik
…war schwierig und eine große Herausforderung für uns alle: meinen Mann und mich, meinen Sohn, aber auch für unsere Eltern, Geschwister und Freunde.
Mein Mann und ich durften quasi Tag und Nacht zu Jonathan, wann immer wir wollten. Mein Sohn durfte aufgrund seines Alters (er war zu Beginn dieser Zeit noch 8 Jahre alt) ÜBERHAUPT  zu seinem Bruder, durfte nur durch eine Glasscheibe vom Balkon aus schauen – was für ihn aber unbefriedigend und auch langweilig war. Unsere Eltern konnten einmal pro Woche vorbeikommen, durften Jonathan aber nur ansehen und nicht berühren (wegen eventueller Keime). Unsere Geschwister waren gezwungen ihn vom Balkon aus anzuschauen, sie hatten ebenfalls keinen Zutritt.
Für uns hieß es nun unser Leben neu organisieren. Mein Mann und ich waren die Einzigen die wirklich immer zu Jonathan durften und ihn auf seinem Weg unterstützen konnten. Also:
Wenn ich in die Klinik fahren wollte brauchte ich Betreuung für Marvin. Und dann saß ich bei Jonathan und habe mich dauernd gefragt was der Große wohl macht und wie es ihm geht? War ich aber zu Hause habe ich mich um Jonathan gesorgt…es war eine sehr anstrengende Zeit!
Mein Mann ist jeden Abend nach seiner Arbeit in die Klinik gefahren: so war für viele Stunden am Tag jemand dort - aber Marvin und ich haben ihn kaum zu Gesicht bekommen. Auch ein geregeltes Familienleben mit gemeinsamen Mahlzeiten fand in dieser Zeit nicht wirklich statt.
Um es vorweg zu nehmen: wir waren 5 Monate in der Klinik und es war eine Zeit die uns alle (aus verschiedenen Gründen!) an unsere Grenzen gebracht hat. Und noch heute: mehr als 1,5 Jahre später bekomme ich Gänsehaut, Atemnot und Tränen in den Augen wenn ich im Fernsehen in einer Frühchensendung diese Geräte piepsen höre!!! Oder darüber schreibe….

Aber zurück zum medizinischen…
Ich bin den Ärzten vom ersten Tag an immer wieder „auf die Nerven gegangen“ weil mich die „komischen“ Hände und Füße irritiert haben. Und nach circa einer Woche hat mich die Stationsärztin dann mit in ihr Büro genommen und mir eröffnet das man vermutet daß unser Sohn kleinwüchsig ist. Diese Diagnose liege nahe wegen der Hände und Füße, außerdem seien auch Knochenanomalien beim Röntgen aufgefallen. Aber um es sicher zu sagen müsse man noch mehrere Tests machen.
In diesem Moment hielt sich mein Schock in Grenzen: Kleinwuchs…ok: nicht schön aber auch kein Weltuntergang! Es gibt eine Menge Kleinwüchsige die ein relativ normales Leben führen - und sogar Schauspieler werden können.
Doch dann kam der Ultraschall des Kopfes, des Gehirns …und uns wurde erklärt es gibt große Auffälligkeiten und Probleme mit dem Gehirn. (Medizinische Fakten stelle ich in unterstrichen vor damit es leichter ist sie aus meinem Text herauszufiltern!!!)


Jonathan hat einen Mikrocephalus, also einen viel zu kleinen Kopf. In diesem kleinen Kopf kann natürlich auch nur ein kleines Gehirn sitzen. Doch leider ist das Gehirn bei ihm nochmal kleiner als der Kopf und im hinteren Bereich befindet sich nur Hirnwasser. Zudem fehlt die Gyrierung des Gehirns, also die Windungen: es ist glatt wie ein Apfel und nicht „wellig“ wie eine Walnuss. Der Balken, der die rechte und linke Hirnhälfte verbindet, fehlt komplett. Und es sind diverse Zysten im Gehirn vorhanden.

Das war dann ein immens großer Schock! Ich hatte doch von Anfang gesagt das ich kein behindertes Kind möchte, hatte alle Tests machen lassen und nun sowas??? Wie sollte ich damit klarkommen??? Was würde er überhaupt können im Leben??? (Wie wir mit dieser Situation klarkamen und was grade mich beschäftigt hat werde ich später genauer beschreiben.)

Für uns wurde ein Gespräch mit einer Humangenetikerin in der Klinik vereinbart – und das hat mich stutzig gemacht. Ich habe zu meinem Mann gesagt das scheinbar noch mehr im Argen liegen muß ansonsten würde uns doch keine Humangenetikerin an die Seite gestellt??
Und so war es dann auch. Die Humangenetikerin eröffnete uns das sie sicher sei das Jonathan kleinwüchsig wäre, doch zusammen genommen mit den Hirndefiziten vermute sie eine extrem seltene Form. Sie wollte uns keine Auskunft darüber geben WELCHE Form: damit wir uns nicht verrückt machen indem wir im Internet recherieren…und außerdem könne es diese Erkrankung eigentlich gar nicht sein, denn sie habe vor nicht einmal zwei Jahren ein Kind mit dieser seltenen Form in genau dieser Klinik betreut – und es sei ja dermaßen UNWAHRSCHEINLICH das man nun einen zweiten Fall habe!!!!  Sie erbat unsere Erlaubnis Röntgen- und Ultraschallbilder sowie die Krankenakte einem befreundeten Professor vorzulegen der im Bereich des Kleinwuchses forsche. Wir haben die Erlaubnis erteilt denn uns war sehr daran gelegen endlich zu wissen mit was wir es zu tun hatten!

Ich weiß nicht mehr wie lange es gedauert hat bis wir ein erneutes Gespräch mit der Humangenetikerin führten und sie uns sagte das der Professor ihre Vermutung bekräftigt habe und sie jetzt gerne eine Genanalyse durchführen würde um die Diagnose zu bestätigen.
Jetzt wurde zum ersten Mal der Name der Krankheit erwähnt:

MOPD Typ I.

Nur Buchstaben…und trotzdem werden diese Buchstaben unser Leben und das unserer Familien ab jetzt vollkommen auf den Kopf stellen und uns alle auf die härteste Probe stellen die man sich vorstellen kann.