Montag, 5. Juni 2017

Unsere Geschichte

WARUM? Warum trifft es ausgerechnet MICH? Wie soll mein Leben weitergehen? Und: WERDE ICH DAS SCHAFFEN??? ...
..diese Fragen stellen sich wohl alle Eltern eines behinderten Kindes hunderte, ja tausende Male. Aber: es gibt keine Antworten…
Man muß lernen mit der Situation umzugehen, sie akzeptieren. Die Veränderungen für das eigene Leben, für die Partnerschaft, für die Geschwisterkinder hinzunehmen und nicht nur schlechtes in ihnen zu sehen – man muss lernen ihnen positives abzugewinnen, denn nur so schafft man es weiterzumachen und nicht an der Situation zu zerbrechen.
Mit diesem Blog möchten wir anderen Eltern von behinderten Kindern Mut machen. Ratschläge geben wie WIR es geschafft haben. Eine Plattform schaffen um für das ein oder andere medizinische Problem einen Lösungsansatz zu finden.
Und natürlich: euch unseren Sohn vorzustellen!! Sein Leben soll nicht umsonst sein…

Doch von Anfang an:
Unsere Diagnose lautet
                           MOPD Typ 1.
Einer der seltensten Gendefekte im Kleinwuchsbereich weltweit. Momentan leben in Dtld 3 und weltweit ca 10 Kinder mit diesem Defekt. Und ich sage bewusst KINDER…denn die Lebenserwartung ist sehr gering, oft nur ein paar Monate.
Aufgrund der geringen Anzahl der bekannten Fälle ist diese Krankheit weitgehend unerforscht. Schon einige Male haben wir ratlose Ärzte gesehen die keine Ahnung hatten wie wir gesundheitliche Probleme lösen können.


Die Schwangerschaft
Nach einem gesunden und normal geborenen Kind in 2006 (von einem anderen Vater) wurde ich Ende 2013 wieder schwanger: mit Zwillingen. Leider hielt diese Schwangerschaft nur 12 Wochen.
Ende 2014 wurde ich erneut schwanger und auch diese Schwangerschaft stand von Anfang an unter keinem guten Stern….schon in einer recht frühen Schwangerschaftswoche setzten das erste Mal Blutungen ein. Ein Schock!!!
Die Blutungen kamen und gingen bis zur Geburt. Ich schwankte zwischen strikter Bettruhe, wieder aufstehen dürfen, Arztterminen und auch Krankenhausaufenthalten.
Jeder Ultraschall zeigte aber ein quietschfideles Kind, das die Blutungen scheinbar nicht beeindruckte.
Allerdings: das Baby war immer zu klein, weit unterhalb jeglicher Durchschnittswerte. Zuerst korrigierten die Ärzte den Entbindungstermin zwei Wochen nach hinten. Dann schickten sie mich zur Nackenfaltenmessung: diese blieb ohne Ergebnis, alle Werte sprachen für ein gesundes Baby. Nun wollte man genauer hinschauen, doch eine Fruchtwasseruntersuchung hielten die Ärzte für zu riskant da immer wieder Blutungen auftraten und sie das Baby nicht über die Maßen stressen wollten. Also wurde eine neue Methode zur Chromosomenanalyse durchgeführt: der sogenannte Prena-Test. Hierbei war es lediglich notwendig das MIR Blut abgenommen wurde anhand dessen die Chromosomen des Baby ausgelesen wurden. Auch dieses Ergebnis sprach für ein gesundes Kind.
Doch weiterhin fiel das geringe Wachstum auf. Ich wurde zu Untersuchungen in eine größere Klinik geschickt. Das Ergebnis hier: meine Plazenta sei eine Kugel und viel zu klein, sie könne das Kind offensichtlich nicht ausreichend versorgen. Häufigere Kontrollen seien notwendig, das Baby aber fit und gut durchblutet: also erst mal kein Grund zur Besorgnis!
Bei einer späteren Untersuchung in der Klinik wurden aber auch hier die Ärzte stutzig weil das Kleine einfach nicht richtig wachsen wollte und meine Blutungen stärker als je zuvor wiedergekommen waren. Also entschlossen wir uns gemeinsam mit dem Ärzteteam nun doch zu einer Fruchtwasseruntersuchung – trotz der Risiken. Doch meine Einstellung war: Ich möchte kein behindertes Kind!! Ich kann und will damit nicht leben!!! Und so sollte ebendies ausgeschlossen werden…
..wenn ich damals nur schon das gewußt hätte was ich heute weiß…..

Das Ergebnis der Fruchtwasseruntersuchung zeigte das wir zu 99,9% ein gesundes Kind erwarten – und zwar einen kleinen Jungen! 8o)

Wir wurden von den Ärzten darauf vorbereitet daß wir sehr wahrscheinlich aber ein Frühchen bekommen würden. Da keine Gendefekte gefunden worden waren spreche das geringe Wachstum für eine Unterversorgung durch die Plazenta und das wiederum führe meist zu einer Frühgeburt.

Kurz vor Ende des 7.Schwangerschaftsmonats bekam ich Wehen. Die Frauenärztin schickte mich sofort mit dem Krankenwagen in die Klinik wo ich stationär aufgenommen wurde. Ich bekam einen Wehenhemmer und vorsichtshalber auch eine Spritze die die Lungenreife herbeiführen sollte.

Die Geburt und das erste Kennenlernen
Am nächsten Tag wurden die Werte des CTG schlechter und deswegen entschlossen sich die Ärzte zu einem Notkaiserschnitt. Innerhalb von 20 Minuten lag ich –total überfordert- im Op. Da wir knapp 80 km von der Klinik entfernt wohnen konnte mein Mann nicht rechtzeitig da sein und ich war allein mit dieser Situation die mich an die Grenzen der Belastbarkeit brachte.
Ich durfte meinen kleinen Jungen nicht sehen, er wurde sofort in die Kinderklinik gebracht.
Sein Geburtsgewicht betrug 490g und er war 29cm groß.
Einige Stunden nach der Geburt durfte mein Mann in die Kinderklinik und einen ersten Blick auf ihn werfen….alles was er sagen konnte als er mir berichtete: „ Er ist so unglaublich klein!! Aber auch unglaublich schön!“
Am nächsten Morgen durfte/konnte dann auch ich zu unserem Kleinen. Ich wußte was mich erwarten wird: Kabel, viele Kabel!…Geräte die piepsen…komische Gerüche…und doch war ich geschockt: er war so unfassbar klein!! Und da er sehr unreif war, war auch seine Haut noch nicht „fertig“: sie war dunkel. Zudem war er mit Hämatomen übersäät und man hatte ihn bei der Entbindung auch in die rechte Seite geschnitten…sein Gesicht konnte ich überhaupt nicht sehen denn es war hinter einer Atemhilfe (Cpap) verborgen.
Ich kann nicht wirklich beschreiben was mir durch den Kopf ging als ich das alles zum ersten Mal gesehen habe: von Angst (um mein Baby) über Erleichterung (das die schwierige Schwangerschaft vorbei ist und die Verantwortung für dieses Leben nicht mehr bei mir liegt) zu Panik (diese Klinik, dieser Kasten wird für lange Zeit der Mittelpunkt in seinem Leben sein) zu noch größerer Panik (werde ich es schaffen mit dieser Situation umzugehen?) zu Traurigkeit (das mein Mann bei seinem ersten Kind so etwas erleben muß) …vermutlich kann diese Situation auch nur jemand nachvollziehen der sie selber erlebt hat.
Nachdem der erste Schock überwunden war begann ich den Kleinen genauer zu betrachten und Fragen an die uns betreuende Schwester zu stellen. Mir ist eigentlich sofort aufgefallen das seine Hände und Füße irgendwie…merkwürdig aussahen. Zu klein und zu dick….die Finger und Zehen zu kurz und einfach ganz anders als ich es von meinem großen Sohn, Marvin,  in Erinnerung hatte. Diese Beobachtung sollte noch eine Rolle spielen – doch für den Moment bekamen wir nur die Auskunft das dies bei Frühchen oft der Fall sei: es handele sich um Wassereinlagerungen die noch verschwinden würden.
Die Haut werde in einigen Tagen auch ausgebildet sein und dann könnten wir ihn anfassen, bis dahin: nur ganz leicht an der Handinnenfläche berühren – alles andere verursache ihm Schmerzen. (Doch selbst diese Berührung war für mich grenzwertig: die Haut war klebrig und ich hatte unsägliche Angst ihn zu verletzen.) Die Schnitte werden verheilen, die Hämatome verschwinden.
Die beste Nachricht jedoch war: er atmete von alleine!!! Von Anfang an!!! Er war nie auch nur eine Sekunde lang beatmet, und das mit diesem Gewicht! Er hatte einfach einen unbändigen Willen zu leben! Das machte uns Mut und gab uns Hoffnung….


….schon lange vor der Geburt war natürlich der Name ein Thema in unserer Familie gewesen…nach der Fruchtwasseruntersuchung stand fest es wird ein Junge, die Mädchennamen wurden also verworfen. 8o)
Ich wollte einen PHIL – einen PHIL COLLIN um genau zu sein, denn ich bin riesiger Phil Collins Fan!! Mein Mann fand den Namen „Ok“, aber nicht berauschend. Dann kam mein großer Sohn mit dem Vorschlag JONATHAN – den ich erst gar nicht toll fand. Zu lang, zu holprig, zu hart….doch je länger er mir durch den Kopf schwirrte desto mehr Gefallen fand ich daran. Das ging meinem Mann ähnlich. Aber von Phil lösen konnte ich mich auch nicht so ganz. Also schlossen wir einen Kompromiss: sollte das Baby mit Haaren geboren werden hieße es JONATHAN, sollte es mit Glatze zur Welt kommen hieße es PHIL (sorry an Phil Collins: aber die Haare sind nun mal lichter geworden mit den Jahren!).
Und dann lag ich ihm OP und hatte Angst und zitterte vor mich hin. Die Schwestern wollten mich ablenken und fragten wie der Bub denn heißen soll. Also habe ich ihnen von unserem Kompromiss erzählt und sie …haben sich kaputt gelacht!! 8o) Ich glaube es waren 12 Leute im OP und alle haben sich amüsiert, es war eine tolle Stimmung in dieser schwierigen Situation und ich konnte mich dadurch ein wenig entspannen und fallen lassen. Das haben die Schwestern wohl bemerkt denn sie haben das Thema aufgegriffen und mir gesagt das JONATHAN so viel schöner sei und der Name auch nicht mehr so häufig vorkomme heutzutage. Dann schaute eine Anästhesistin über das Tuch und meinte: „ Es ist ein Jonathan!“, und die andere: „Quatsch, er hat KEINE Haare!“, darauf die erste wieder: „Macht nix, wir sagen dem Papa einfach die sind innerhalb von 5 Minuten alle ausgefallen!“…8o))) Und das haben die Damen auch genauso gemacht….8o))))

Also wurde er Jonathan genannt. Und wir sind heute sehr froh darüber!! JONATHAN kommt aus dem hebräischen und bedeutet frei übersetzt: GESCHENK GOTTES. Und genau das ist er: unser Geschenk Gottes!! Er hat zum einen diese schwierige Schwangerschaft überstanden und sich mit einem Gewicht von nur 490g ins Leben gekämpft, zum anderen ist er eins von nur 10 Kindern weltweit mit dem Gendefekt MOPD Typ 1. Wenn also „Jonathan“ nicht passend für IHN ist, für wen dann?????

Die Zeit in der Kinderklinik
…war schwierig und eine große Herausforderung für uns alle: meinen Mann und mich, meinen Sohn, aber auch für unsere Eltern, Geschwister und Freunde.
Mein Mann und ich durften quasi Tag und Nacht zu Jonathan, wann immer wir wollten. Mein Sohn durfte aufgrund seines Alters (er war zu Beginn dieser Zeit noch 8 Jahre alt) ÜBERHAUPT  zu seinem Bruder, durfte nur durch eine Glasscheibe vom Balkon aus schauen – was für ihn aber unbefriedigend und auch langweilig war. Unsere Eltern konnten einmal pro Woche vorbeikommen, durften Jonathan aber nur ansehen und nicht berühren (wegen eventueller Keime). Unsere Geschwister waren gezwungen ihn vom Balkon aus anzuschauen, sie hatten ebenfalls keinen Zutritt.
Für uns hieß es nun unser Leben neu organisieren. Mein Mann und ich waren die Einzigen die wirklich immer zu Jonathan durften und ihn auf seinem Weg unterstützen konnten. Also:
Wenn ich in die Klinik fahren wollte brauchte ich Betreuung für Marvin. Und dann saß ich bei Jonathan und habe mich dauernd gefragt was der Große wohl macht und wie es ihm geht? War ich aber zu Hause habe ich mich um Jonathan gesorgt…es war eine sehr anstrengende Zeit!
Mein Mann ist jeden Abend nach seiner Arbeit in die Klinik gefahren: so war für viele Stunden am Tag jemand dort - aber Marvin und ich haben ihn kaum zu Gesicht bekommen. Auch ein geregeltes Familienleben mit gemeinsamen Mahlzeiten fand in dieser Zeit nicht wirklich statt.
Um es vorweg zu nehmen: wir waren 5 Monate in der Klinik und es war eine Zeit die uns alle (aus verschiedenen Gründen!) an unsere Grenzen gebracht hat. Und noch heute: mehr als 1,5 Jahre später bekomme ich Gänsehaut, Atemnot und Tränen in den Augen wenn ich im Fernsehen in einer Frühchensendung diese Geräte piepsen höre!!! Oder darüber schreibe….

Aber zurück zum medizinischen…
Ich bin den Ärzten vom ersten Tag an immer wieder „auf die Nerven gegangen“ weil mich die „komischen“ Hände und Füße irritiert haben. Und nach circa einer Woche hat mich die Stationsärztin dann mit in ihr Büro genommen und mir eröffnet das man vermutet daß unser Sohn kleinwüchsig ist. Diese Diagnose liege nahe wegen der Hände und Füße, außerdem seien auch Knochenanomalien beim Röntgen aufgefallen. Aber um es sicher zu sagen müsse man noch mehrere Tests machen.
In diesem Moment hielt sich mein Schock in Grenzen: Kleinwuchs…ok: nicht schön aber auch kein Weltuntergang! Es gibt eine Menge Kleinwüchsige die ein relativ normales Leben führen - und sogar Schauspieler werden können.
Doch dann kam der Ultraschall des Kopfes, des Gehirns …und uns wurde erklärt es gibt große Auffälligkeiten und Probleme mit dem Gehirn. (Medizinische Fakten stelle ich in unterstrichen vor damit es leichter ist sie aus meinem Text herauszufiltern!!!)


Jonathan hat einen Mikrocephalus, also einen viel zu kleinen Kopf. In diesem kleinen Kopf kann natürlich auch nur ein kleines Gehirn sitzen. Doch leider ist das Gehirn bei ihm nochmal kleiner als der Kopf und im hinteren Bereich befindet sich nur Hirnwasser. Zudem fehlt die Gyrierung des Gehirns, also die Windungen: es ist glatt wie ein Apfel und nicht „wellig“ wie eine Walnuss. Der Balken, der die rechte und linke Hirnhälfte verbindet, fehlt komplett. Und es sind diverse Zysten im Gehirn vorhanden.

Das war dann ein immens großer Schock! Ich hatte doch von Anfang gesagt das ich kein behindertes Kind möchte, hatte alle Tests machen lassen und nun sowas??? Wie sollte ich damit klarkommen??? Was würde er überhaupt können im Leben??? (Wie wir mit dieser Situation klarkamen und was grade mich beschäftigt hat werde ich später genauer beschreiben.)

Für uns wurde ein Gespräch mit einer Humangenetikerin in der Klinik vereinbart – und das hat mich stutzig gemacht. Ich habe zu meinem Mann gesagt das scheinbar noch mehr im Argen liegen muß ansonsten würde uns doch keine Humangenetikerin an die Seite gestellt??
Und so war es dann auch. Die Humangenetikerin eröffnete uns das sie sicher sei das Jonathan kleinwüchsig wäre, doch zusammen genommen mit den Hirndefiziten vermute sie eine extrem seltene Form. Sie wollte uns keine Auskunft darüber geben WELCHE Form: damit wir uns nicht verrückt machen indem wir im Internet recherieren…und außerdem könne es diese Erkrankung eigentlich gar nicht sein, denn sie habe vor nicht einmal zwei Jahren ein Kind mit dieser seltenen Form in genau dieser Klinik betreut – und es sei ja dermaßen UNWAHRSCHEINLICH das man nun einen zweiten Fall habe!!!!  Sie erbat unsere Erlaubnis Röntgen- und Ultraschallbilder sowie die Krankenakte einem befreundeten Professor vorzulegen der im Bereich des Kleinwuchses forsche. Wir haben die Erlaubnis erteilt denn uns war sehr daran gelegen endlich zu wissen mit was wir es zu tun hatten!

Ich weiß nicht mehr wie lange es gedauert hat bis wir ein erneutes Gespräch mit der Humangenetikerin führten und sie uns sagte das der Professor ihre Vermutung bekräftigt habe und sie jetzt gerne eine Genanalyse durchführen würde um die Diagnose zu bestätigen.
Jetzt wurde zum ersten Mal der Name der Krankheit erwähnt:

MOPD Typ I.

Nur Buchstaben…und trotzdem werden diese Buchstaben unser Leben und das unserer Familien ab jetzt vollkommen auf den Kopf stellen und uns alle auf die härteste Probe stellen die man sich vorstellen kann.