Ich war
wütend…enttäuscht…und ungeduldig. Wie lange würde sich das jetzt hinziehen??
Ich hatte doch so fest damit gerechnet daß die Zeit in der Klinik bald vorbei
sein würde! Wieso hatten die Ärzte eigentlich nicht eher festgestellt daß bei
Jonathans Herz nicht alles ok war?? Warum in letzter Minute wo man quasi schon
mit einem Bein aus der Krankenhaustür heraus war???
Aber gut:
es änderte jetzt nichts sauer zu sein. Nun mußten wir eben noch ein bißchen
Geduld aufbringen! Immerhin versuchten die Ärzte für uns ein gebrauchtes
Blutdruckmessgerät zu finden, das würde schneller gehen als auf ein neues Gerät
zu warten.
An dieser
Stelle dann auch mal ein ganz großes Lob an das Team unserer Frühchenstation!!!
Alle dort haben versucht uns die Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten:
Jonathan hat einen CD-Player bekommen um Musik hören zu können…wir haben
„Spielsachen“ wie eine Kinderwagenkette bekommen und durften auch ein paar
Sachen (die man gut desinfizieren konnte) selber mitbringen um ihn ein wenig zu
beschäftigen und uns den Anschein von Normalität zu geben. Und das
allerallerbeste: man hat uns einen Kinderwagen zur Verfügung gestellt damit wir
– mit einem transportablen Überwachungsmonitor ausgestattet- auf dem Balkon
spazieren gehen konnten. Das war einfach…überwältigend!!! Zwar immer nur ums
Haus herum und wieder zurück, stets an der Station entlang…aber trotzdem: wir
konnten spazieren gehen! Hatten einige Zeit für uns, ohne die nervigen
Geräusche…waren einfach mal mit unserem Sohn allein: wie „normale“ Eltern eben.
Es war so wichtig und so toll für uns!!! Vielen Dank das ihr das möglich
gemacht habt!
Grade mir
hat das wieder ein wenig Kraft gegeben auch weiterhin durchzuhalten…auch wenn
ich immer häufiger Wehmut verspürt habe. Ich wollte auch endlich ein „normales“
Leben: wollte meine beiden Jungs zusammen sehen und nicht immer getrennt.
Wollte unser Leben endlich selbst in die Hand nehmen und nicht mehr „abhängig“
sein von anderen Menschen und deren Entscheidungen. Fragte mich oft warum es
nicht reichte das Jonathan „anders“ war: warum mußten wir auch noch dieses
Martyrium aushalten monatelang in dieser Klinik „eingesperrt“ zu sein?? Oftmals
hätte ich einfach losschreien wollen vor Wut…
Zumindest
haben wir diese Wartezeit genutzt um uns auf das Leben mit Jonathan zu Hause
vorzubereiten. Die Schwestern auf Station hatten –natürlich!- viel mehr
Erfahrung als wir wenn es um das Leben mit Behinderten geht. Sie haben uns zum
einen darauf vorbereitet daß wir viele Blicke und auch Kommentare würden
ertragen müssen. (Was wir dann im Alltag wirklich erlebt haben werde ich später
erzählen, es ist haarsträubend!!). Zum anderen wurden von Schwestern und Ärzten
auch immer wieder Kommentare fallen gelassen zu Jonathans gesundheitlicher Situation,
was uns also erwarten würde – zu was er in der Lage sein würde, oder eben auch
nicht.
Schade
finde ich das es nicht ein langes Gespräch gegeben hat in dem EINFACH ALLES von
vorne bis hinten erläutert wurde!!! Das mag vielleicht an der fehlenden Zeit
auf dieser Station liegen oder auch daran das man uns nicht zu viel auf einmal
zumuten wollte…doch habe ich bis heute einen bitteren Beigeschmack wenn ich
mich daran erinnere wie ich von Jonathans Leistenbruch erfahren habe: beim
Wickeln fiel mir auf das ein Hoden wirklich SEHR geschwollen war. Daraufhin
habe ich die mich an diesem Tag betreuende Schwester gefragt was da los sei.
Und sie war ganz entsetzt: „Hat Ihnen denn noch niemand gesagt das er einen
Leistenbruch hat???“…solche Situationen geben einem als Eltern das Gefühl
unwichtig zu sein in dieser Maschinerie Krankenhaus. Und es schockt einen viel
mehr als wenn direkt ein Gespräch gesucht worden wäre, denn nun habe ich mich permanent
gefragt: WAS VERSCHWEIGEN DIE ÄRZTE MIR NOCH??
Zu
Jonathans Gesamtsituation bekamen wir in dieser Zeit (nach und nach!) folgende
Prognosen:
-Er würde
geistig nicht normal sein, die Hirnschädigungen seien einfach zu massiv. Was er
allerdings schlußendlich lernen könne und was nicht – das stehe ein bißchen in
den Sternen.
-Mit
Sicherheit sagen könne man aber das er nicht in der Lage sein würde seine Hände
und Beine zu koordinieren, weil sein Balken fehlt. Also:
1. Er
würde vermutlich nicht krabbeln oder laufen können.
2. Er
würde keine Gegenstände mit zwei Händen zugleich aufheben können.
3. Er
würde nicht klatschen können.
4. Er
würde keine Gabel/keinen Löffel zum Mund führen können.
-Sprechen
lernen sei auch eher nicht machbar: eine, zudem sehr große Zyste, sitze genau
am Sprachzentrum.
-Wir
müssten mit Krampfanfällen rechnen
-Die
frühe Sterblichkeit dieser Kinder ist Teil des Gendefekts und es gibt kein
Mittel dagegen.
Ja….ich
glaube zu dieser Prognose brauche ich jetzt nicht viel zu sagen: jeder der
Kinder hat wird verstehen was einem durch den Kopf geht wenn sich nach und nach
solch ein Bild aufbaut!! Aber: DAS LEBEN IST KEIN PONYHOF, wir schluckten die
Angst und die Traurigkeit herunter…und dann ging es weiter!!!
Ein Punkt
der mir damals große Hoffnung gab waren Jonathans Augen. Ich hörte zwar immer
wieder daß sein Gehirn massiv beeinträchtigt war (es wurden zwischendurch immer
mal wieder Ultraschalluntersuchungen vom Gehirn gemacht die zeigten das sich an
der Gesamtsituation nichts änderte), aber seine Augen blickten immer wacher und
neugieriger durch die Gegend!! Er nahm Gegenstände wahr die man ihm vors
Gesicht hielt und folgte ihnen auch mit den Augen. Wenn wir uns über ihn
beugten lächelte er immer öfter. Und: ihm wurde zunehmend langweiliger!!! Er
wollte beschäftigt werden, nur dann war er ruhig und ausgeglichen. Das alles
kannte ich von meinem großen Sohn nur zu gut!! Und der ist wirklich ein sehr
sehr cleverer Kerl geworden!! Also habe ich angefangen auf meinen Instinkt zu
vertrauen und habe jedem (auch denen die es NICHT hören wollten!) immer wieder
gesagt: „Jonathan ist geistig nicht sooo stark eingeschränkt, seine Augen sind
wach und neugierig. Ich WEISS es einfach, denn ich sehe es doch an seinem
Blick.“
Ich wußte
es natürlich NICHT…aber ich HOFFTE daß ich Recht hatte!! Denn wo ich zu Anfang
absolut gegen ein behindertes Kind gewesen war…hatte ich nun nur noch den
Anspruch das Jonathan wenigstens seine Umwelt wahrnehmen und am Leben als
solches mit Freude teilnehmen sollte…das er mich/uns erkennen würde und einfach
glücklich sei. Mein Mann und ich haben uns damals vorgenommen: wir müssen
Jonathan MINDESTENS einmal am Tag zum Lachen bringen, dann ist es gut!
Und noch
etwas haben wir uns schon in dieser Zeit vorgenommen (und bis heute auch
umgesetzt): wir schieben NICHTS mehr auf die lange Bank!!!
Wir sind
früher immer gerne gereist, waren ständig unterwegs – haben Städtereisen
gemacht, Museen und Sehenswürdigkeiten oder Freizeitparks besucht. Unsere
Freunde haben oft gelacht und gefragt wann wir mal ZU HAUSE sind.
Und das
wollten wir weiterführen: wir wollen Jonathan die Welt zeigen! Er soll Berge
sehen und das Meer…er soll Tiere beobachten…Kirchen oder Museen besuchen. Er
soll Karussell fahren und reiten…es gibt so unendlich viele Dinge die das Leben
lebenswert machen!! Und wir wollen ihm alles ermöglichen was aufgrund seines
Gesundheitszustandes machbar ist, damit so viel Freude wie möglich in sein
Leben gepackt wird. Wir wissen nicht wie viel Zeit uns mit ihm bleibt, deswegen
machen wir alles was uns möglich erscheint: SOFORT.
Heute ist
er zwei Jahre alt und wir haben schon einiges mit ihm unternommen…doch davon
werde ich erst später berichten! 8o)))
Zuerst
muß ich wieder zurückkehren in die Zeit in der Kinderklinik, wo wir immer noch
auf die Entlassung warteten. Ungeduldig auf die Entlassung warteten, das möchte
ich an der Stelle betonen!!
Irgendwann
war es dann tatsächlich so weit: ein gebrauchtes Blutdruckmeßgerät für uns war
gefunden!! Wir bekamen noch eine Einweisung wie das Gerät zu benutzen war, es
war wirklich nicht schwierig. Die Herausforderung hierbei war das Jonathan
stillhalten mußte während der Messung: und sagen Sie das mal einem knapp 5
Monaten alten Baby!!! Einige Leute werden jetzt vermutlich sagen das man im
Schlaf messen könnte, das sei dann sicherlich einfacher. Das ist natürlich
richtig. Aber leider hat man dann nur den Blutdruck in der Ruhe, und es braucht
auch einen Blutdruck im wachen Zustand….aber gut: wenn das unsere einzige
Herausforderung wäre wären wir ja froh!! Wir würden das schon hinbekommen!!
Ich bin
nicht mehr ganz sicher was den zeitlichen Ablauf angeht, aber ich glaube
irgendwann um diese Zeit herum hatte ich dann ein weiteres Gespräch mit unserer
Humangenetikerin und unserer Stationsärztin – mein Mann war an diesem Tag
leider dienstlich verhindert. In diesem Gespräch habe ich gesagt daß ich kein „um den heißen Brei
herumreden“ möchte, das sie die Fakten auf den Tisch legen sollen weil ich viel
besser damit umgehen kann wenn ich weiß woran ich bin. Auch wenn die Fakten
nicht schön sein werden – muß ich mich dem aber doch stellen!!
Nun habe
ich erfahren das man davon ÜBERZEUGT sei das Jonathan MOPD Typ 1 habe – das war
jetzt keine Überraschung für mich, das hatte ich sowieso nach meinen Recherchen
im Internet erwartet. Die Genanalyse sei nur eine Formsache. Gleichzeitig hat
man unsere Einwilligung eingeholt das Röntgenbilder und Details zur
Krankengeschichte sowie Fotos in einer zentralen Datenbank über verschiedene
Formen des Kleinwuchses in Freiburg gespeichert werden dürfen – die
Einwilligung haben wir gerne gegeben!! Wir brauchten nur an den Bericht über
das Mädchen mit Elektrolytverlust zu denken – der hatte uns auch sehr geholfen.
Wenn wir also irgendwann jemandem durch die Speicherung unserer Daten helfen
können, dann war Jonathans Leben nicht umsonst.
Ich habe
noch einige Informationen bezüglich der Krankheit bekommen, kann mich aber
nicht mehr an alles erinnern denn eine Information hat sich bei mir eingebrannt
und alles andere überdeckt.
In den
200 Jahren in denen diese Krankheit bekannt ist hat es nur knapp 40 Fälle
weltweit gegeben – und so gut wie alle diese Kinder sind an Infekten gestorben.
An Fieber…an Magen-Darm-Viren…an Erkältung und Grippe. Die Medizin hat dafür
noch keine Erklärung gefunden, bei den wenigsten Kindern wurden Autopsien
erlaubt und so weiß man nicht genau warum diese (eigentlich harmlosen)
Erkrankungen MOPD-Kinder das Leben kosten. Einige dieser Kinder waren sogar in
Kliniken gebracht worden – aber die Ärzte dort konnten nichts für sie tun. Das
war jetzt nicht unbedingt eine Information die Mut machte!! Sollten wir bei
jedem Schnupfen Panik bekommen und eine Klinik aufsuchen??? Besser als das wäre
es natürlich wenn wir Infekte weitgehend vermeiden könnten. Dann würden wir uns
erst gar nicht in solche eine Lage bringen!! Denn bei Jonathan kam der
Elektrolytverlust hinzu und wenn er dann noch einen Magen-Darm-Infekt bekommen
würde….es konnte ja keiner abschätzen was das für Auswirkungen auf seinen
Körper haben würde!
Also
legte man mir nahe mich -soweit es möglich ist- von Babys und Kindergartenkindern fernzuhalten, denn diese
haben nun mal besonders viele Infekte – und auch wenn die Kinder selbst keine
Symptome haben können sie doch Überträger sein. Ein weiteres Risiko seien große
Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen, besonders zu Jahreszeiten in
denen Erkältungskrankheiten grassieren.
Jeder
Infekt den Jonathan NICHT bekommt ist gut!! Denn das Problem bei der Sache ist:
keiner, wirklich KEINER kann uns sagen ob es das Leben unseres Sohnes
verlängert wenn er seltener krank ist. Es gibt zu wenige Erfahrungen mit der
Krankheit um in diesem Punkt eine verlässliche Aussage treffen zu können.
Deswegen: lieber auf Nummer sicher gehen, denn wer riskiert schon absichtlich
das Leben des eigenen Kindes???
Was
bedeutete das nun für unser Leben??? Große Veränderungen und Umstellungen!!
Denn sowohl mein Mann als auch ich haben je zwei Patenkinder – und nur ein
Patenkind war bereits eingeschult worden, meine Patentochter jedoch war zum
Zeitpunkt von Jonathans Geburt noch nicht mal ein Jahr alt!!
Wir
wußten jetzt wie gefährlich Infekte für unser Kind sein können und haben
deswegen eine rigorose Entscheidung getroffen: es darf leider niemand mit
Kindern unter Schulalter zu uns kommen. Punkt. Es ist uns einfach zu riskant
denn die Kinder können Krankheiten in sich tragen von denen man noch nichts
weiß – sie könnten Jonathan aber trotzdem damit anstecken. Außerdem muß jeder
der uns besuchen kommen möchte gesund sein: beim leisesten Halskratzen oder
Unwohlsein verschieben wir das Treffen. Diese Entscheidung hatte natürlich
immense Auswirkungen auf unseren Freundeskreis und auch auf unser soziales
Leben - doch das ist ein Thema das zu einem späteren Zeitpunkt eine größere
Rolle spielen wird.
Für den
Moment waren jetzt aber alle medizinischen Details und Fakten besprochen, und
endlich wurde ein Tag für die Entlassung festgelegt…..