Freitag, 16. Juni 2017

Ich war wütend…enttäuscht…und ungeduldig. Wie lange würde sich das jetzt hinziehen?? Ich hatte doch so fest damit gerechnet daß die Zeit in der Klinik bald vorbei sein würde! Wieso hatten die Ärzte eigentlich nicht eher festgestellt daß bei Jonathans Herz nicht alles ok war?? Warum in letzter Minute wo man quasi schon mit einem Bein aus der Krankenhaustür heraus war???


Aber gut: es änderte jetzt nichts sauer zu sein. Nun mußten wir eben noch ein bißchen Geduld aufbringen! Immerhin versuchten die Ärzte für uns ein gebrauchtes Blutdruckmessgerät zu finden, das würde schneller gehen als auf ein neues Gerät zu warten.


An dieser Stelle dann auch mal ein ganz großes Lob an das Team unserer Frühchenstation!!! Alle dort haben versucht uns die Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten: Jonathan hat einen CD-Player bekommen um Musik hören zu können…wir haben „Spielsachen“ wie eine Kinderwagenkette bekommen und durften auch ein paar Sachen (die man gut desinfizieren konnte) selber mitbringen um ihn ein wenig zu beschäftigen und uns den Anschein von Normalität zu geben. Und das allerallerbeste: man hat uns einen Kinderwagen zur Verfügung gestellt damit wir – mit einem transportablen Überwachungsmonitor ausgestattet- auf dem Balkon spazieren gehen konnten. Das war einfach…überwältigend!!! Zwar immer nur ums Haus herum und wieder zurück, stets an der Station entlang…aber trotzdem: wir konnten spazieren gehen! Hatten einige Zeit für uns, ohne die nervigen Geräusche…waren einfach mal mit unserem Sohn allein: wie „normale“ Eltern eben. Es war so wichtig und so toll für uns!!! Vielen Dank das ihr das möglich gemacht habt!


Grade mir hat das wieder ein wenig Kraft gegeben auch weiterhin durchzuhalten…auch wenn ich immer häufiger Wehmut verspürt habe. Ich wollte auch endlich ein „normales“ Leben: wollte meine beiden Jungs zusammen sehen und nicht immer getrennt. Wollte unser Leben endlich selbst in die Hand nehmen und nicht mehr „abhängig“ sein von anderen Menschen und deren Entscheidungen. Fragte mich oft warum es nicht reichte das Jonathan „anders“ war: warum mußten wir auch noch dieses Martyrium aushalten monatelang in dieser Klinik „eingesperrt“ zu sein?? Oftmals hätte ich einfach losschreien wollen vor Wut…


Zumindest haben wir diese Wartezeit genutzt um uns auf das Leben mit Jonathan zu Hause vorzubereiten. Die Schwestern auf Station hatten –natürlich!- viel mehr Erfahrung als wir wenn es um das Leben mit Behinderten geht. Sie haben uns zum einen darauf vorbereitet daß wir viele Blicke und auch Kommentare würden ertragen müssen. (Was wir dann im Alltag wirklich erlebt haben werde ich später erzählen, es ist haarsträubend!!). Zum anderen wurden von Schwestern und Ärzten auch immer wieder Kommentare fallen gelassen zu Jonathans gesundheitlicher Situation, was uns also erwarten würde – zu was er in der Lage sein würde, oder eben auch nicht.


Schade finde ich das es nicht ein langes Gespräch gegeben hat in dem EINFACH ALLES von vorne bis hinten erläutert wurde!!! Das mag vielleicht an der fehlenden Zeit auf dieser Station liegen oder auch daran das man uns nicht zu viel auf einmal zumuten wollte…doch habe ich bis heute einen bitteren Beigeschmack wenn ich mich daran erinnere wie ich von Jonathans Leistenbruch erfahren habe: beim Wickeln fiel mir auf das ein Hoden wirklich SEHR geschwollen war. Daraufhin habe ich die mich an diesem Tag betreuende Schwester gefragt was da los sei. Und sie war ganz entsetzt: „Hat Ihnen denn noch niemand gesagt das er einen Leistenbruch hat???“…solche Situationen geben einem als Eltern das Gefühl unwichtig zu sein in dieser Maschinerie Krankenhaus. Und es schockt einen viel mehr als wenn direkt ein Gespräch gesucht worden wäre, denn nun habe ich mich permanent gefragt: WAS VERSCHWEIGEN DIE ÄRZTE MIR NOCH??


Zu Jonathans Gesamtsituation bekamen wir in dieser Zeit (nach und nach!) folgende Prognosen:
-Er würde geistig nicht normal sein, die Hirnschädigungen seien einfach zu massiv. Was er allerdings schlußendlich lernen könne und was nicht – das stehe ein bißchen in den Sternen.
-Mit Sicherheit sagen könne man aber das er nicht in der Lage sein würde seine Hände und Beine zu koordinieren, weil sein Balken fehlt. Also:
1. Er würde vermutlich nicht krabbeln oder laufen können.
2. Er würde keine Gegenstände mit zwei Händen zugleich aufheben können.
3. Er würde nicht klatschen können.
4. Er würde keine Gabel/keinen Löffel zum Mund führen können.
-Sprechen lernen sei auch eher nicht machbar: eine, zudem sehr große Zyste, sitze genau am Sprachzentrum.
-Wir müssten mit Krampfanfällen rechnen
-Die frühe Sterblichkeit dieser Kinder ist Teil des Gendefekts und es gibt kein Mittel dagegen.


Ja….ich glaube zu dieser Prognose brauche ich jetzt nicht viel zu sagen: jeder der Kinder hat wird verstehen was einem durch den Kopf geht wenn sich nach und nach solch ein Bild aufbaut!! Aber: DAS LEBEN IST KEIN PONYHOF, wir schluckten die Angst und die Traurigkeit herunter…und dann ging es weiter!!!


Ein Punkt der mir damals große Hoffnung gab waren Jonathans Augen. Ich hörte zwar immer wieder daß sein Gehirn massiv beeinträchtigt war (es wurden zwischendurch immer mal wieder Ultraschalluntersuchungen vom Gehirn gemacht die zeigten das sich an der Gesamtsituation nichts änderte), aber seine Augen blickten immer wacher und neugieriger durch die Gegend!! Er nahm Gegenstände wahr die man ihm vors Gesicht hielt und folgte ihnen auch mit den Augen. Wenn wir uns über ihn beugten lächelte er immer öfter. Und: ihm wurde zunehmend langweiliger!!! Er wollte beschäftigt werden, nur dann war er ruhig und ausgeglichen. Das alles kannte ich von meinem großen Sohn nur zu gut!! Und der ist wirklich ein sehr sehr cleverer Kerl geworden!! Also habe ich angefangen auf meinen Instinkt zu vertrauen und habe jedem (auch denen die es NICHT hören wollten!) immer wieder gesagt: „Jonathan ist geistig nicht sooo stark eingeschränkt, seine Augen sind wach und neugierig. Ich WEISS es einfach, denn ich sehe es doch an seinem Blick.“


Ich wußte es natürlich NICHT…aber ich HOFFTE daß ich Recht hatte!! Denn wo ich zu Anfang absolut gegen ein behindertes Kind gewesen war…hatte ich nun nur noch den Anspruch das Jonathan wenigstens seine Umwelt wahrnehmen und am Leben als solches mit Freude teilnehmen sollte…das er mich/uns erkennen würde und einfach glücklich sei. Mein Mann und ich haben uns damals vorgenommen: wir müssen Jonathan MINDESTENS einmal am Tag zum Lachen bringen, dann ist es gut!


Und noch etwas haben wir uns schon in dieser Zeit vorgenommen (und bis heute auch umgesetzt): wir schieben NICHTS mehr auf die lange Bank!!!
Wir sind früher immer gerne gereist, waren ständig unterwegs – haben Städtereisen gemacht, Museen und Sehenswürdigkeiten oder Freizeitparks besucht. Unsere Freunde haben oft gelacht und gefragt wann wir mal ZU HAUSE sind.
Und das wollten wir weiterführen: wir wollen Jonathan die Welt zeigen! Er soll Berge sehen und das Meer…er soll Tiere beobachten…Kirchen oder Museen besuchen. Er soll Karussell fahren und reiten…es gibt so unendlich viele Dinge die das Leben lebenswert machen!! Und wir wollen ihm alles ermöglichen was aufgrund seines Gesundheitszustandes machbar ist, damit so viel Freude wie möglich in sein Leben gepackt wird. Wir wissen nicht wie viel Zeit uns mit ihm bleibt, deswegen machen wir alles was uns möglich erscheint: SOFORT.


Heute ist er zwei Jahre alt und wir haben schon einiges mit ihm unternommen…doch davon werde ich erst später berichten! 8o)))


Zuerst muß ich wieder zurückkehren in die Zeit in der Kinderklinik, wo wir immer noch auf die Entlassung warteten. Ungeduldig auf die Entlassung warteten, das möchte ich an der Stelle betonen!!


Irgendwann war es dann tatsächlich so weit: ein gebrauchtes Blutdruckmeßgerät für uns war gefunden!! Wir bekamen noch eine Einweisung wie das Gerät zu benutzen war, es war wirklich nicht schwierig. Die Herausforderung hierbei war das Jonathan stillhalten mußte während der Messung: und sagen Sie das mal einem knapp 5 Monaten alten Baby!!! Einige Leute werden jetzt vermutlich sagen das man im Schlaf messen könnte, das sei dann sicherlich einfacher. Das ist natürlich richtig. Aber leider hat man dann nur den Blutdruck in der Ruhe, und es braucht auch einen Blutdruck im wachen Zustand….aber gut: wenn das unsere einzige Herausforderung wäre wären wir ja froh!! Wir würden das schon hinbekommen!!


Ich bin nicht mehr ganz sicher was den zeitlichen Ablauf angeht, aber ich glaube irgendwann um diese Zeit herum hatte ich dann ein weiteres Gespräch mit unserer Humangenetikerin und unserer Stationsärztin – mein Mann war an diesem Tag leider dienstlich verhindert. In diesem Gespräch habe ich  gesagt daß ich kein „um den heißen Brei herumreden“ möchte, das sie die Fakten auf den Tisch legen sollen weil ich viel besser damit umgehen kann wenn ich weiß woran ich bin. Auch wenn die Fakten nicht schön sein werden – muß ich mich dem aber doch stellen!!


Nun habe ich erfahren das man davon ÜBERZEUGT sei das Jonathan MOPD Typ 1 habe – das war jetzt keine Überraschung für mich, das hatte ich sowieso nach meinen Recherchen im Internet erwartet. Die Genanalyse sei nur eine Formsache. Gleichzeitig hat man unsere Einwilligung eingeholt das Röntgenbilder und Details zur Krankengeschichte sowie Fotos in einer zentralen Datenbank über verschiedene Formen des Kleinwuchses in Freiburg gespeichert werden dürfen – die Einwilligung haben wir gerne gegeben!! Wir brauchten nur an den Bericht über das Mädchen mit Elektrolytverlust zu denken – der hatte uns auch sehr geholfen. Wenn wir also irgendwann jemandem durch die Speicherung unserer Daten helfen können, dann war Jonathans Leben nicht umsonst.


Ich habe noch einige Informationen bezüglich der Krankheit bekommen, kann mich aber nicht mehr an alles erinnern denn eine Information hat sich bei mir eingebrannt und alles andere überdeckt.


In den 200 Jahren in denen diese Krankheit bekannt ist hat es nur knapp 40 Fälle weltweit gegeben – und so gut wie alle diese Kinder sind an Infekten gestorben. An Fieber…an Magen-Darm-Viren…an Erkältung und Grippe. Die Medizin hat dafür noch keine Erklärung gefunden, bei den wenigsten Kindern wurden Autopsien erlaubt und so weiß man nicht genau warum diese (eigentlich harmlosen) Erkrankungen MOPD-Kinder das Leben kosten. Einige dieser Kinder waren sogar in Kliniken gebracht worden – aber die Ärzte dort konnten nichts für sie tun. Das war jetzt nicht unbedingt eine Information die Mut machte!! Sollten wir bei jedem Schnupfen Panik bekommen und eine Klinik aufsuchen??? Besser als das wäre es natürlich wenn wir Infekte weitgehend vermeiden könnten. Dann würden wir uns erst gar nicht in solche eine Lage bringen!! Denn bei Jonathan kam der Elektrolytverlust hinzu und wenn er dann noch einen Magen-Darm-Infekt bekommen würde….es konnte ja keiner abschätzen was das für Auswirkungen auf seinen Körper haben würde!


Also legte man mir nahe mich -soweit es möglich ist- von Babys und  Kindergartenkindern fernzuhalten, denn diese haben nun mal besonders viele Infekte – und auch wenn die Kinder selbst keine Symptome haben können sie doch Überträger sein. Ein weiteres Risiko seien große Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen, besonders zu Jahreszeiten in denen Erkältungskrankheiten grassieren.


Jeder Infekt den Jonathan NICHT bekommt ist gut!! Denn das Problem bei der Sache ist: keiner, wirklich KEINER kann uns sagen ob es das Leben unseres Sohnes verlängert wenn er seltener krank ist. Es gibt zu wenige Erfahrungen mit der Krankheit um in diesem Punkt eine verlässliche Aussage treffen zu können. Deswegen: lieber auf Nummer sicher gehen, denn wer riskiert schon absichtlich das Leben des eigenen Kindes???


Was bedeutete das nun für unser Leben??? Große Veränderungen und Umstellungen!! Denn sowohl mein Mann als auch ich haben je zwei Patenkinder – und nur ein Patenkind war bereits eingeschult worden, meine Patentochter jedoch war zum Zeitpunkt von Jonathans Geburt noch nicht mal ein Jahr alt!!


Wir wußten jetzt wie gefährlich Infekte für unser Kind sein können und haben deswegen eine rigorose Entscheidung getroffen: es darf leider niemand mit Kindern unter Schulalter zu uns kommen. Punkt. Es ist uns einfach zu riskant denn die Kinder können Krankheiten in sich tragen von denen man noch nichts weiß – sie könnten Jonathan aber trotzdem damit anstecken. Außerdem muß jeder der uns besuchen kommen möchte gesund sein: beim leisesten Halskratzen oder Unwohlsein verschieben wir das Treffen. Diese Entscheidung hatte natürlich immense Auswirkungen auf unseren Freundeskreis und auch auf unser soziales Leben - doch das ist ein Thema das zu einem späteren Zeitpunkt eine größere Rolle spielen wird.


Für den Moment waren jetzt aber alle medizinischen Details und Fakten besprochen, und endlich wurde ein Tag für die Entlassung festgelegt…..