Freitag, 30. Juni 2017

Nachdem die ersten Tage „Eingewöhnung“ vorbei waren fing für uns der Alltag an. Wir hatten bei der Entlassung eine „To-Do-Liste“ bekommen:

-einen Kinderarzt suchen

-einen Physiotherapeuten suchen und Termine für die Physiotherapie vereinbaren

-einen Kontrolltermin beim Orthopäden vereinbaren

-einen Augenarzt suchen und einen Termin vereinbaren

-einen Termin in 2-3 Wochen in unserer Klinik vereinbaren damit die Blutwerte erneut kontrolliert werden könnten

-einen Termin beim Kardiologen vereinbaren um die zu Hause gemessenen Blutdruckwerte und das weitere Vorgehen zu besprechen

-einen Termin mit den Kinderchirurgen unserer Klinik vereinbaren


Uff....DAS war eine LISTE!!!

Ich bekam einen Eindruck davon was es hieß ein Leben mit einem behinderten Kind zu führen. Man hat TERMINE, TERMINE, TERMINE…ich kann mich nicht erinnern mit Marvin JEMALS so viele TERMINE gehabt zu haben!! Und da wir nun lauter neue Ärzte und Therapeuten kennenlernen würden mussten wir auch immer wieder aufs Neue unsere Geschichte erzählen und erklären was MOPD für eine Krankheit ist – denn keiner kennt sie, was ich auch niemandem verübeln kann da sie so selten ist!!!


Wir arbeiteten nun also unsere To-Do-Liste ab:


Kinderarzt
Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr erinnern wie wir an die Adresse einer Kinderärztin in unserer Nähe gekommen sind. Aber wir haben dort einen Termin vereinbart: es ging in erster Linie darum sie kennenzulernen,  um die Ausstellung von Rezepten für die Physiotherapie und um eine Besprechung wie es mit den regelmäßigen Blutkontrollen (wegen des Elektrolytverlustes mußte Jonathans Blut weiterhin REGELMÄSSIG kontrolliert werden damit man rechtzeitig bemerkte wenn er wieder „sauer“ würde) weitergehen sollte. Uns behagte der Gedanke nicht alle 2-3 Wochen in die 80km entfernte Klinik fahren zu müssen (welcher Zeit- und auch finanzielle Aufwand!!) und uns dort Keimen auszusetzen…

Das erste Zusammentreffen mit der Ärztin war wirklich mehr als befremdlich: sie kam herein und sagte uns „Hallo!“, dann nahm sie Jonathan auf den Arm und….KÜSSTE ihn!! Ich war so perplex das ich gar nichts dazu sagen konnte. Aber irgendwie fand ich die Situation mehr als befremdlich: eine mir vollkommen fremde Person maßt sich an meinen Sohn einfach so zu küssen???? Was war DAS für eine Ärztin???? Sympathie kam bei mir in diesem Moment nicht wirklich auf.

Auch das was wir mit ihr besprochen haben war unbefriedigend: obwohl ich bei der Terminvereinbarung mitgeteilt hatte was für ein Gendefekt vermutet wurde hatte sie sich in KEINSTER Weise damit auseinandergesetzt, ich musste alles wieder von Anfang an erklären, sie wusste überhaupt nicht was diese Krankheit bedeutet oder für Auswirkungen hat.

Die gewünschten Rezepte habe ich bekommen. Doch zu meiner Frage bezüglich der Blutabnahme, ob es denn nicht möglich sei dies regelmäßig hier vor Ort (bei ihr oder auch im Kreiskrankenhaus) zu erledigen wurde mir beschieden: „Das kann KEIN Kinderarzt hier in der Nähe!! Und auch das Krankenhaus ist da nicht zuständig, da müssen Sie schon immer in die Klinik fahren in der Jonathan zur Welt kam – ist leider anders nicht möglich!“


Ich habe einen neuen Termin vereinbart und bin nach Hause gefahren. Und war total unzufrieden!! DAS sollte meine neue Kinderärztin sein? Auf meiner Seite war weder Vertrauen noch Sympathie! Und DAS erachte ich bei einem Kind wie Jonathan als immens wichtig!! Ich musste mich doch auf meinen Arzt verlassen können!! Er würde ein wichtiger und steter Begleiter in meinem Leben sein.

Zum GLÜCK, zu unserem WAHNSINNIGEN GLÜCK!!, kam eine Freundin von mir zu Besuch um Jonathan kennenzulernen und fragte mich bei welchem Kinderarzt ich denn sei. Als ich ihr dann erzählte wie unzufrieden ich war meinte sie das ihr Kinderarzt der „absolute Hammer“ sei und außerdem Frühchenerfahrung habe - denn er käme von einer Station für Neonatologie, und zwar aus dem Krankenhaus in dem Jonathan zur Welt gekommen ist!! Ich war Feuer und Flamme und habe mir gleich die Adresse und Telefonnummer geben lassen. Dann habe ich dort angerufen und ehrlich erzählt dass ich mit meiner Ärztin nicht zufrieden bin und den Arzt gerne kennenlernen würde um zu sehen ob „die Chemie bei ihm besser stimmt“.

Und was soll ich sagen??? Die Chemie stimmt!!! Ich denke auf beiden Seiten.

Für unseren ersten Termin hat sich der Arzt sehr viel Zeit genommen UND er hatte sich vorher über die Krankheit informiert!!! Das zeigte mir dass er interessiert und engagiert war, zudem kannte er aus seinen Klinikzeiten natürlich noch viele unserer behandelnden Ärzte und auch unsere Humangenetikerin. Nicht ganz unwichtig: wenn es mal Probleme geben sollte und die behandelnden Ärzte auf dem kurzen Dienstweg miteinander reden könnten wäre das für mich sehr beruhigend!! Fachlich blickte er auf viele Jahre Berufserfahrung zurück und das BESTE: er würde in seiner Praxis die Blutentnahmen machen und diese dann in einem externen Labor auswerten lassen!!!

Damit war es entschieden: DAS war unser Kinderarzt!!! Alles stimmte: Sympathie, Erfahrung und wir hätten die Blutkontrollen vor Ort. Ich war begeistert!!! Bis heute habe ich diese Entscheidung nie bereut: unser Arzt ist einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben mit Jonathan geworden - ich vertraue ihm vollkommen und blind. Ich spüre dass er meinen Sohn wirklich mag, dass er nicht nur aus medizinischem Interesse agiert. Wenn ich in Panik verfalle oder in Tränen ausbreche weil Jonathan mal krank ist holt er mich auf den Teppich zurück. Und er hat uns schon viele bürokratische Hürden erleichtert, oft mit unserer Krankenkasse „gestritten“ wenn es um die Beschaffung von Hilfsmitteln ging. Kurz: er hält uns den Rücken frei!!! Ich bin unendlich froh und dankbar dass wir ihn gefunden haben!!!

(Nur der Vollständigkeit halber: ich habe die Ärztin angerufen, den vereinbarten Termin abgesagt UND mitgeteilt das die Chemie für mich nicht gestimmt hat und wir einen neuen Kinderarzt gefunden haben.)


Physiotherapie
Schon im Krankenhaus hat Jonathan jeden Tag „geturnt“, sprich: es kam eine Physiotherapeutin die mit ihm Übungen gemacht hat.
Es gibt zwei Formen von Physiotherapie: die Therapie nach Vojta und die Therapie nach Bobath. Im Krankenhaus wurde die Therapie nach Vojta angewendet. Sie trägt zur Kräftigung der Muskulatur bei, was bei Frühchen wichtig ist da sie oft monatelang in ihrem Bettchen liegen ohne sich großartig bewegen zu können, ja oftmals liegen sie sogar sehr lange in fast nur einer Körperposition.

Ich habe also eine Therapeutin mit Vojtaerfahrung gesucht. Auch hier hat mir eine Freundin geholfen: mein Mann kennt sie seit Kindertagen, ich war ihr erst im Krankenhaus näher gekommen denn sie hat einige Monate vor mir ein Frühchen entbunden und sie hatte in der Klinik lange Zeit den Platz/den Inkubator neben uns. (Die Welt ist eben klein!)

Sie hat mir gesagt zu welcher Therapeutin sie geht und mir die Telefonnummer gegeben.

Ich habe also dort angerufen und der Therapeutin mein Sprüchlein aufgesagt: „Hallo, ich bräuchte einen Termin. Mein Sohn hat Verdacht auf MOPD Typ 1, das ist ein sehr seltener……“, und dann fiel sie mir schon ins Wort: „Ich weiß was das ist, ich kenne diese Krankheit!“…ich bin aus allen Wolken gefallen!! Bitte was???? Sie KANNTE diese Krankheit?? Hammer!!! Ich habe also mein Erstaunen zum Ausdruck gebracht, denn sie war der erste Mensch den ich kennenlernte der mit der Krankheit etwas anfangen konnte!! Und dann sagte sie - und die Erinnerung macht mir heute noch Gänsehaut wenn ich darüber rede/schreibe: „Ich habe einen Patienten mit derselben Erkrankung.“

….nur ein kleiner Satz, aber meine Welt stand Kopf!!! Ich habe losgeschrien und gelacht!! Ich hatte den Jungen mit MOPD gefunden der von unserer Humangenetikerin vor uns behandelt worden war!!!! Meine Hoffnung dass er in der Nähe wohnte hatte sich bestätigt….ich konnte mein Glück nicht fassen, ich war außer mir vor Freude!!

Natürlich wusste ich das auch die Physiotherapeutin mir seine Kontaktdaten  nicht nennen durfte, aber ich habe ihr meine Daten gegeben und sie gebeten diese weiterzureichen: denn es wäre doch schön wenn wir uns kennenlernen könnten. Das hat die Therapeutin auch getan und es kam zum Kontakt mit dieser Familie – aber das ist ein Thema das mir so wichtig ist das ich darauf später und ausführlicher eingehen möchte!!


Zunächst einmal begannen wir mit unserer Therapie.


Im Krankenhaus wurde jeden Tag mit Jonathan „geturnt“, ansonsten war ich bisher weder mit der Therapie nach Vojta noch nach Bobath konfrontiert worden. Deswegen war meine Erwartungshaltung das es werden würde wie in der Klinik: mein Sohn liegt entspannt auf dem Schoß oder im Arm der Therapeutin und seine Beine und Arme werden bewegt und gedehnt. Nun ja…meine Erwartungen wichen von der Realität ja dermaßen weit ab!!


Zunächst einmal musste ich Jonathan komplett ausziehen, selbst die Windel. Jetzt verstand ich auch warum ich gebeten worden war ein Handtuch mitzubringen. Und dann begann die Therapeutin mit den Übungen: insgesamt 3 Stück – eine bei der er auf dem Rücken lag, eine bei der er auf dem Bauch lag und eine bei der er auf der Seite lag. Diese drei Übungen dienten zuerst einmal der Muskelkräftigung und sollten ihn auch dazu bringen sich später allein umzudrehen und zu robben.


Was soll ich sagen…ich sollte vorweg schicken das ich auch heute, fast 2 Jahre nach diesem ersten Termin, noch FELSENFEST davon überzeugt bin das die Vojta-Therapie gut ist und große Erfolge bringt!! Aber…jeder der diese Therapie kennt weiß es: Vojta ist nicht schön!! Denn die Kinder werden in Positionen „gezwungen“ die sie vielleicht in diesem Moment nicht mögen, sie werden festgehalten um bestimmte Bewegungen/Reaktionen aus ihnen herauszukitzeln. Sie können sich nicht anders mitteilen, also schreien sie. Wie am Spieß. Und wehren sich. Mit aller Kraft die sie haben.

Viele Eltern halten deswegen die Vojta-Therapie nicht über einen längeren Zeitraum durch. DENN: es ist leider nicht mit einem Termin beim Therapeuten pro Woche getan. Man muss JEDEN TAG zu Hause die Übungen machen um zum Ziel zu gelangen.

Das heißt im Klartext: mein Mann und ich haben die Übungen gelernt. Wir haben sie gezeigt/erklärt bekommen und unter Anleitung der Therapeutin in der Praxis geübt bis die Handgriffe saßen. Und dann haben wir sie jeden Tag mit Jonathan zu Hause gemacht. Er hat geschrien, er hat sich gewehrt, er hat sich aufgebäumt – man muss das ausblenden und darüber stehen… wenn man Erfolge will: muss man trotzdem weiter turnen. Diese Therapie ist nichts für zart besaitete Eltern, denn wenn man es nicht aushält das Kind weinen zu sehen und aus dem Grund die Übungen daheim nicht macht – dann kann man die Therapie auch gleich abbrechen, sie wird dann nichts bringen.


Wenn man meinen Blog bis hierher gelesen hat, dann weiß man das ich nicht grade ein Mimöschen bin wenn es um Therapien oder Behandlungen bei meinen Kindern geht: sonst hätte ich z.B. keine Magensonden legen können. Trotzdem muss ich an der Stelle zugeben dass es auch bei mir Momente in der Therapie gegeben hat in denen ich mit den Tränen gekämpft habe, in denen ich in der Physiopraxis aus dem Raum gegangen bin weil ich NICHT ertragen konnte wie sehr mein Kind geschrien hat!!!

Am Schreien hat sich über die Zeit nichts geändert, die Therapeutin und ich haben viele Dinge ausprobiert: so bin ich z.B. nicht mit in den Behandlungsraum gegangen sondern habe im Wartezimmer gesessen und gelesen. Doch Jonathan hat genauso gebrüllt wie immer. Also bin ich dann wieder mit dazu gekommen und habe versucht ihn mit Worten zu beruhigen, vergebens.


Das Interessante ist: zu Hause hat Jonathan nicht so schlimm geschrien und sich gewehrt. Er hat zwar auch geweint, aber es war noch in einem für mich erträglichen Rahmen so dass ich die Übungen konsequent durchgezogen habe.


Die wöchentlichen Physiotermine waren für mich aber immer eine Qual. Oftmals habe ich schon morgens Bauchschmerzen gehabt weil ich wusste dass er wieder wie am Spieß schreien wird und ich nichts dagegen tun kann. Ich war jedes Mal extrem erleichtert wenn die 45 Minuten vorbei waren und ich wusste das ich nun eine Woche „Ruhe“ habe.


Irgendwann kam dann der Zeitpunkt wo ich den Sinn der Vojta-Therapie in Frage gestellt habe…ich habe jeden Tag zu Hause geturnt, wir sind einmal die Woche in die Praxis gefahren – und es hat sich einfach nichts getan!! Er war über ein Jahr alt und konnte noch immer…nichts! Sich nicht umdrehen, nicht rollen…sollten am Ende die Ärzte untertrieben haben mit ihren Prognosen und er noch nicht mal in der Lage sein von allein seine Position zu verändern????


Mir fiel es zunehmend schwerer die Übungen mit Jonathan zu machen. Ich fragte mich fast jeden Tag: WOFÜR???? Er mag es nicht, es bringt nichts…sollte ich es nicht einfach lassen???


Aber dann kam der Tag…an dem er sich von allein drehte!! Er war 17 Monate alt und ich habe geweint. Sturzbäche geweint. Und Gott gedankt. Nun wusste ich wofür ich mich und ihn „gequält“ hatte. Und ich konnte leichteren Herzens weitermachen, ich war wieder motiviert.


Nachdem die erste Freude ein wenig abgeebbt war begann ich mir Gedanken zu machen. Wenn er in der Lage war sich zu drehen – und ihn die Therapie dazu animiert und befähigt hatte- zu was war sie dann noch in der Lage?? Wäre es vielleicht auch möglich, wenn ich nur hart genug mit ihm arbeite…ihn auch zum krabbeln zu bewegen?? Entgegen aller Aussagen der Ärzte???

Und auf einmal hatte ich ein Ziel!! Ich wollte beweisen dass mein Sohn viel mehr kann als alle denken! Ich wollte die Ärzte Lügen strafen! Ich wollte „Recht“ haben, ich sah doch in seinen Augen dass so viel mehr in ihm steckte…er war ein Kämpfer!! Er hatte schon so viel geschafft, warum nicht auch das???


Was Jonathan bis heute erreicht hat und kann….werde ich an dieser Stelle noch nicht verraten! Um das zu erfahren müsst ihr meinen Blog auch weiterhin lesen….8o)