Operation
in der Kinderorthopädie
Anfang
Oktober machten wir uns auf den Weg in die Kinderorthopädie: Jonathan würde
operiert werden.
Die OP
war unabdingbar und sie ließ sich auch nicht aufschieben.
Bedingt
durch den Gendefekt saßen Jonathans Kniescheiben außen am Bein, er knickte die
Knie zur Seite statt nach hinten…war nicht in der Lage zu stehen oder zu gehen.
Und würde es nie sein – wenn wir nichts unternahmen.
Außerdem
waren durch die Fehlhaltung der Knie seine Sehnen und Muskeln verkürzt. Über
kurz oder lang würde er Schmerzen bekommen. Schlimme Schmerzen.
Mal
wieder…hatten wir keine Wahl.
Wir
MUSSTEN die Op durchführen lassen, ansonsten würden wir Jonathan ein großes
Stück Lebensqualität rauben UND ihm Schmerzen zufügen.
Im
Frühsommer hatten wir schon einen mehrtägigen stationären Aufenthalt in der
Klinik gehabt und waren hellauf begeistert von diesem Haus und der Betreuung gewesen.
Also starteten wir zwar mit einem etwas mulmigen Gefühl Richtung Krankenhaus –
aber das bezog sich mehr auf die Angst vor dem Eingriff selbst.
Wenn wir
da schon gewusst hätten WAS uns in dieser Klinik alles erwarten sollte….ich
denke ich wäre erst überhaupt nicht losgefahren!!
Ich
möchte hier nicht „abrechnen“…und ich möchte auch niemanden schlecht machen.
Aber ich werde ehrlich sein und die Zeit in der Klinik so schildern wie sie für
uns war….und sie war NICHT GUT.
Am
Aufnahmetag fanden Gespräche statt (mit einer Stationsschwester, mit der
Anästhesie), wir packten Koffer aus. Sortierten uns. Jonathan musste zur
Blutentnahme weil man seine Blutgruppe bestimmen wollte. Irgendwann dazwischen
waren die Klinikclowns da und Jonathan hatte sehr viel Spaß!!!
Und dann
wurde es Abend und wir sollten zum Gespräch mit dem Operateur um noch einmal
alles zu besprechen was am nächsten Tag passieren würde.
Bei
diesem Gespräch kamen mir zum ersten Mal Zweifel an unserer Entscheidung in diese
Klinik zu gehen.
Es war
Abendessenszeit, deswegen bin ich allein zum Gespräch gegangen während mein
Mann Jonathan fütterte.
Wir waren
mit der Vorstellung hierhergekommen das in der geplanten Op BEIDE Beine
operiert werden würden – denn so hatte man es uns bei der stationären
Bestandsaufnahme im Frühsommer erklärt: Sehnen und Muskeln anritzen, dann Gips „für
ein paar Tage“ um eine Vernarbung herbeizuführen. Anschließend
Orthesenversorgung um die Kniescheiben in Position zu drücken. MAXIMAL 8 Tage
Klinikaufenthalt. So lange hatte mein Mann Urlaub und so lange war die Pension
gebucht. Marvin befand sich mit den Großeltern in Mallorca im Urlaub – alles war
perfekt organisiert.
Und dann
legte der Arzt los.
Wir
würden EIN BEIN operieren. Der Blutverlust müsste bei Jonathans Gewicht gering
gehalten werden, zwei Beine zu operieren: VIEL ZU RISKANT. Zumal überhaupt noch
NIE an einem so KLEINEN Kind diese Art von Operation durchgeführt worden war.
Ich
fragte mich was dieser Arzt im Frühsommer am Krankheitsbild nicht verstanden
hatte??? Hatte er ernsthaft erwartet das Jonathan innerhalb weniger Monate so
stark zunehmen würde das man eine Op an BEIDEN BEINEN durchführen könnte?? Oder
warum hatte er uns das zugesagt??
Ich war
perplex und erstaunt.
Laut Arzt
würde die zweite Op dann in 6 Wochen stattfinden. Das bedeutete Organisation
unsererseits: Marvin musste untergebracht werden, mein Mann Urlaub nehmen, eine
Pension gemietet (und bezahlt!) werden. Ich sagte nichts….war mir in dem Moment
nicht sicher ob ich beim letzten Gespräch auch wirklich alles richtig
verstanden hatte? HATTE der Arzt damals WIRKLICH gesagt dass wir nur EINE OP
machen müssten??
(Als ich
später mit meinem Mann sprach stellte sich heraus dass dem so war. Man hatte
uns im Frühsommer etwas ganz anderes erzählt als an diesem Abend.)
Und es
ging noch weiter. Denn auf einmal war die Rede davon das die Kniescheiben „operativ
nach vorne verlegt“ werden würden. Das hatte ich im Sommer auch anders
verstanden: da hörte es sich so an als könnte man die Kniescheiben mit den
Orthesen in Position drücken.
Mir wurde
immer übler. DAS HIER war überhaupt nicht das was ich ERWARTET hatte! DAS HIER war
auf einmal GANZ ANDERS - SCHLIMMER.
Der
Höhepunkt kam aber noch….
Anwesend
war beim Gespräch neben dem Operateur noch eine weitere Ärztin.
Die
beiden fachsimpelten dann – teilweise als wäre ich überhaupt nicht da! Unterhielten
sich über einen Jungen der dieselbe Operation hinter sich habe und nun schon
seit über zwei Wochen hier sei: weil er einfach komplett die Nahrung verweigere
und TOTAL abgemagert sei. Wann man ihn entlassen könne stand in den Sternen,
erst mal müsse man sehen das man ihn wieder „aufpäppele“.
Ach ja,
und dann gab es auch noch den einen Jungen vor ein paar Monaten….der hatte bei
der Op SO VIEL Blut verloren das er eine Bluttransfusion gebraucht hatte…und trotzdem
war er kollabiert, so dass man ihn ins Kreiskrankenhaus verlegen musste weil
man „für solche Situationen“ hier einfach nicht eingerichtet war.
„Ok: also
wir haben Blutkonserven in ausreichender Menge bestellt, es ist gut möglich das
auch Jonathan welche brauchen wird. Wir werden im schlimmsten Falle dann auch
nicht zögern und einen Rettungswagen bestellen und ihn ebenfalls verlegen. Das
sollten Sie schon mal wissen.“
BUMM.
Mir ging
in diesem Moment nur EIN GEDANKE durch den Kopf: „Sind die eigentlich noch ganz
dicht?“….wie… bitte WIE!!!...kann man einer MUTTER am Abend VOR EINER OP solche
Dinge sagen??? Bzw im Beisein einer Mutter überhaupt über solche Dinge
reden????
Wenn ich
heute zurückdenke….dann hätte ich da schon sagen sollen: „Das war es! Wir packen
und gehen.“ Habe ich aber nicht gemacht weil ich einfach nur…fassungslos war.
Und ehrlich gesagt überhaupt nicht wusste was ich sagen sollte! Und das ICH!
Das kommt echt selten vor.
„Haben
Sie noch Fragen?“…ja, eigentlich schon. WISSEN SIE ÜBERHAUPT WAS SIE TUN??? Das
hätte ich dem Arzt gerne um die Ohren gehauen. Habe ich aber nicht. Ich wusste
einfach nicht mehr wo oben und unten ist. Ob ich hier überhaupt richtig bin. Und
ob ich diese Operation noch will….ob ich diese Operation HIER will!!! Bei
DIESEN Ärzten!!!
Ich
wollte weglaufen. Ging aber nicht. Weil ich wusste das Jonathan diese Op
brauchte.
Also:
Augen zu und durch.
Meinem
Mann habe ich danach nur die wichtigsten Punkte erzählt, was würde es bringen
ihm auch noch Angst zu machen??
Ich war
still und in mich gekehrt. Beobachtete Jonathan wie er mit seiner Kugelbahn
spielte. Hatte Angst: war es das letzte Mal das ich mein Kind spielen sah? Bluttransfusion….GROSSES
RISIKO….würde der kleine Mann das alles überhaupt schaffen? Spielten wir mit
seinem Leben?
Mein Mann
versuchte mich aufzubauen: „Du machst Dir schon wieder so viele Gedanken! Es
geht schon alles gut!“ …er hatte ja keine Ahnung was der Arzt alles von sich
gegeben hatte – und das sollte auch so bleiben!
In dieser
Nacht blieb mein Mann in der Klinik und ich ging in die Pension. Geschlafen
habe ich kaum. Dauernd war da dieses Gefühl das ich in die Klinik gehen und die
letzten Stunden mit meinem Kind genießen muss – weil ich nicht weiß ob ich nach
dem morgigen Tag mein Kind noch in den Arm nehmen kann. Diese Nacht war der
blanke Horror.
Und der
kommende Morgen erst recht…mir war soooo übel, mein Hals war sooo eng. Ich wollte
heulen und schreien und immer noch wegrennen. Ging aber alles nicht weil ich
Jonathan auch keine Angst machen durfte….
Für die Operation
waren insgesamt 6 Stunden angesetzt, mit Ein- und Ausleitung der Narkose. Deswegen
war Jonathan zumindest der Erste im Op damit er nicht so lange ohne Essen und
Trinken war. Also mussten wir diesen „Vor-Op-Horror“ wenigstens nicht sooo
lange aushalten.
Der
kleine Mann bekam ein Beruhigungsmittel und dann brachten wir ihn zur Schleuse
wo die Anästhesisten ihn in Empfang nahmen.
„Ihr Kind
ist heute mein Kind!“…sicher ein Standart-Satz. Aber er hat mir ein bisschen
geholfen.
Mein Mann
und ich sind einkaufen gegangen und dann in die Pension. Ich habe gelesen, er
gearbeitet. Geredet haben wir nicht viel. Dazu habe ich in solchen Momenten
keine Lust.
Irgendwie
ging die Zeit rum und früher als vermutet rief die Klinik an das wir zu
Jonathan könnten, es sei alles gut.
Ich bin
die 400 Meter fast geflogen…lach…diese Erleichterung!! Er war noch da, er hatte
es geschafft….ohne Bluttransfusion und den ganzen Horror.
Als wir
im Aufwachraum ankamen schlief er noch. Ich musste so weinen: da war er. Mein „Pupi“
(so nennen wir ihn schon EWIG!). Es ging ihm gut….ein bisschen blass wegen dem
Blutverlust und ein wenig kalt war er. Aber ansonsten alles top. GOTT SEI
DANK!!
Der Arzt
kam zu uns und erzählte das medizinisch alles gut gegangen war: die Kniescheibe
war nun da wo sie hingehörte. Das Bein FAST grade, die geringfügige Neigung
würde in den nächsten Tagen manuell gestreckt werden. Jonathans Sehnen und
Muskeln waren viel stärker als man es bei seinen dünnen Beinen erwartete und „wunderschön“.
Auf die Frage
des Arztes: „Wollen Sie mal sehen, ich habe Fotos gemacht!“…habe ich so
vehement wie selten geantwortet: „Fotos vom OFFENEN BEIN??? NEIN, danke!“….allein
die Frage zu stellen: WELCHE MUTTER will das sehen, bitteschön???….ich war ein
wenig perplex und …entsetzt???
Aber…wir
nahmen in den USA an einer Studie teil und ich weiß dass dort ALLES von
Interesse ist. Also bat ich den Arzt die Fotos nach Amerika zum Forschungsteam
zu schicken. Dort würden sie sehr interessiert angenommen werden – umsonst waren
sie also nicht gemacht worden!
Bald ging
es dann auch schon ins Überwachungszimmer, hier sollten wir 24 Stunden bleiben:
Jonathans Werte mussten kontrolliert werden. Man wollte wegen des seltenen Gendefektes
auf Nummer sicher gehen.
Der Gips
den er hatte war einfach nur RIESIG an dem kleinen Kerl.
Das
operierte Bein war eingegipst und um seine Hüfte herum verlief ein Gipsring: fast
bis unter die Brust, um den Gips zu stabilisieren und ihn dazu zu nötigen das
Bein ruhig zu halten. Aber dadurch war Jonathan dermaßen eingeschränkt das er
nicht sitzen konnte. Auf dem Bauch liegen und stehen ging in den ersten Tagen
auch nicht wegen der Schmerzen. Also konnte er nur auf dem Rücken liegen….das
war aber nicht unbedingt die Position die er gut fand. Hatte er doch grade erst
krabbeln gelernt!!!
Die Erinnerung
an diese Zeit macht mir immer noch zu schaffen und ich kann nicht alles
detailliert berichten. Es wäre zu viel und würde mich vermutlich auch
überfordern.
Aber es
waren schlimme….ZWEI WOCHEN….hier. Eigentlich gibt es nur negatives zu
berichten.
Jonathan
hat viel geschrien. Ob vor Schmerzen oder aus Wut weil er sich nicht bewegen
konnte: können wir nicht genau sagen.
Wir waren
noch nie mit dem kleinen Mann in einer Situation wo er so viele Schmerzen hätte
„haben können“. Wir waren aber auch noch nie in einer Situation wo er so
gefrustet „hätte sein können“.
Wir haben
also nach bestem Wissen und Gewissen Medikamente verabreicht und versucht ihn
abzulenken und es ihm so schön als möglich zu machen.
Aber…er
hat 13 Tage lang NUR GESCHRIEN. Komplett und durchgehend. Kaum geschlafen.
Essen und Trinken eingestellt. Es war der Horror!!! Wir haben ihn zum Essen
gezwungen und das ist etwas das man als Eltern nicht machen sollte…aber an ihm
war sowieso kaum was dran und wenn er dann noch seine kleine Nahrungsmenge pro
Tag ausfallen ließ….
Trinken
haben wir ihm Tröpfchenweise mit einer Spritze eingeflößt und um jeden
Milliliter gekämpft.
Marvin
war mit den Großeltern auf Mallorca.
Wo nur
wenige Kilometer vom Urlaubsort entfernt ein Unwetter mit Hochwasser, Sturm und
Ausnahmezustand herrschte. An einem Tag konnte ich weder ihn noch meine Eltern erreichen
und Nachrichten wurden nicht beantwortet. Ich war am Limit angekommen…
Und dann
war die Organisation in der Klinik, ganz anders als im Frühsommer!, der BLANKE
HORROR!!!
Aber das…ist
eine längere Geschichte.