Freitag, 11. Januar 2019


Operation in der Kinderorthopädie
Anfang Oktober machten wir uns auf den Weg in die Kinderorthopädie: Jonathan würde operiert werden.

Die OP war unabdingbar und sie ließ sich auch nicht aufschieben.

Bedingt durch den Gendefekt saßen Jonathans Kniescheiben außen am Bein, er knickte die Knie zur Seite statt nach hinten…war nicht in der Lage zu stehen oder zu gehen. Und würde es nie sein – wenn wir nichts unternahmen.

Außerdem waren durch die Fehlhaltung der Knie seine Sehnen und Muskeln verkürzt. Über kurz oder lang würde er Schmerzen bekommen. Schlimme Schmerzen.

Mal wieder…hatten wir keine Wahl.
Wir MUSSTEN die Op durchführen lassen, ansonsten würden wir Jonathan ein großes Stück Lebensqualität rauben UND ihm Schmerzen zufügen.

Im Frühsommer hatten wir schon einen mehrtägigen stationären Aufenthalt in der Klinik gehabt und waren hellauf begeistert von diesem Haus und der Betreuung gewesen. Also starteten wir zwar mit einem etwas mulmigen Gefühl Richtung Krankenhaus – aber das bezog sich mehr auf die Angst vor dem Eingriff selbst.

Wenn wir da schon gewusst hätten WAS uns in dieser Klinik alles erwarten sollte….ich denke ich wäre erst überhaupt nicht losgefahren!!

Ich möchte hier nicht „abrechnen“…und ich möchte auch niemanden schlecht machen. Aber ich werde ehrlich sein und die Zeit in der Klinik so schildern wie sie für uns war….und sie war NICHT GUT.


Am Aufnahmetag fanden Gespräche statt (mit einer Stationsschwester, mit der Anästhesie), wir packten Koffer aus. Sortierten uns. Jonathan musste zur Blutentnahme weil man seine Blutgruppe bestimmen wollte. Irgendwann dazwischen waren die Klinikclowns da und Jonathan hatte sehr viel Spaß!!!

Und dann wurde es Abend und wir sollten zum Gespräch mit dem Operateur um noch einmal alles zu besprechen was am nächsten Tag passieren würde.

Bei diesem Gespräch kamen mir zum ersten Mal Zweifel an unserer Entscheidung in diese Klinik zu gehen.

Es war Abendessenszeit, deswegen bin ich allein zum Gespräch gegangen während mein Mann Jonathan fütterte.

Wir waren mit der Vorstellung hierhergekommen das in der geplanten Op BEIDE Beine operiert werden würden – denn so hatte man es uns bei der stationären Bestandsaufnahme im Frühsommer erklärt: Sehnen und Muskeln anritzen, dann Gips „für ein paar Tage“ um eine Vernarbung herbeizuführen. Anschließend Orthesenversorgung um die Kniescheiben in Position zu drücken. MAXIMAL 8 Tage Klinikaufenthalt. So lange hatte mein Mann Urlaub und so lange war die Pension gebucht. Marvin befand sich mit den Großeltern in Mallorca im Urlaub – alles war perfekt organisiert.

Und dann legte der Arzt los.

Wir würden EIN BEIN operieren. Der Blutverlust müsste bei Jonathans Gewicht gering gehalten werden, zwei Beine zu operieren: VIEL ZU RISKANT. Zumal überhaupt noch NIE an einem so KLEINEN Kind diese Art von Operation durchgeführt worden war.

Ich fragte mich was dieser Arzt im Frühsommer am Krankheitsbild nicht verstanden hatte??? Hatte er ernsthaft erwartet das Jonathan innerhalb weniger Monate so stark zunehmen würde das man eine Op an BEIDEN BEINEN durchführen könnte?? Oder warum hatte er uns das zugesagt??

Ich war perplex und erstaunt.

Laut Arzt würde die zweite Op dann in 6 Wochen stattfinden. Das bedeutete Organisation unsererseits: Marvin musste untergebracht werden, mein Mann Urlaub nehmen, eine Pension gemietet (und bezahlt!) werden. Ich sagte nichts….war mir in dem Moment nicht sicher ob ich beim letzten Gespräch auch wirklich alles richtig verstanden hatte? HATTE der Arzt damals WIRKLICH gesagt dass wir nur EINE OP machen müssten??

(Als ich später mit meinem Mann sprach stellte sich heraus dass dem so war. Man hatte uns im Frühsommer etwas ganz anderes erzählt als an diesem Abend.)

Und es ging noch weiter. Denn auf einmal war die Rede davon das die Kniescheiben „operativ nach vorne verlegt“ werden würden. Das hatte ich im Sommer auch anders verstanden: da hörte es sich so an als könnte man die Kniescheiben mit den Orthesen in Position drücken.

Mir wurde immer übler. DAS HIER war überhaupt nicht das was ich ERWARTET hatte! DAS HIER war auf einmal GANZ ANDERS - SCHLIMMER.

Der Höhepunkt kam aber noch….

Anwesend war beim Gespräch neben dem Operateur noch eine weitere Ärztin.
Die beiden fachsimpelten dann – teilweise als wäre ich überhaupt nicht da! Unterhielten sich über einen Jungen der dieselbe Operation hinter sich habe und nun schon seit über zwei Wochen hier sei: weil er einfach komplett die Nahrung verweigere und TOTAL abgemagert sei. Wann man ihn entlassen könne stand in den Sternen, erst mal müsse man sehen das man ihn wieder „aufpäppele“.
Ach ja, und dann gab es auch noch den einen Jungen vor ein paar Monaten….der hatte bei der Op SO VIEL Blut verloren das er eine Bluttransfusion gebraucht hatte…und trotzdem war er kollabiert, so dass man ihn ins Kreiskrankenhaus verlegen musste weil man „für solche Situationen“ hier einfach nicht eingerichtet war.

„Ok: also wir haben Blutkonserven in ausreichender Menge bestellt, es ist gut möglich das auch Jonathan welche brauchen wird. Wir werden im schlimmsten Falle dann auch nicht zögern und einen Rettungswagen bestellen und ihn ebenfalls verlegen. Das sollten Sie schon mal wissen.“

BUMM.

Mir ging in diesem Moment nur EIN GEDANKE durch den Kopf: „Sind die eigentlich noch ganz dicht?“….wie… bitte WIE!!!...kann man einer MUTTER am Abend VOR EINER OP solche Dinge sagen??? Bzw im Beisein einer Mutter überhaupt über solche Dinge reden????

Wenn ich heute zurückdenke….dann hätte ich da schon sagen sollen: „Das war es! Wir packen und gehen.“ Habe ich aber nicht gemacht weil ich einfach nur…fassungslos war. Und ehrlich gesagt überhaupt nicht wusste was ich sagen sollte! Und das ICH! Das kommt echt selten vor.

„Haben Sie noch Fragen?“…ja, eigentlich schon. WISSEN SIE ÜBERHAUPT WAS SIE TUN??? Das hätte ich dem Arzt gerne um die Ohren gehauen. Habe ich aber nicht. Ich wusste einfach nicht mehr wo oben und unten ist. Ob ich hier überhaupt richtig bin. Und ob ich diese Operation noch will….ob ich diese Operation HIER will!!! Bei DIESEN Ärzten!!!

Ich wollte weglaufen. Ging aber nicht. Weil ich wusste das Jonathan diese Op brauchte.

Also: Augen zu und durch.

Meinem Mann habe ich danach nur die wichtigsten Punkte erzählt, was würde es bringen ihm auch noch Angst zu machen??

Ich war still und in mich gekehrt. Beobachtete Jonathan wie er mit seiner Kugelbahn spielte. Hatte Angst: war es das letzte Mal das ich mein Kind spielen sah? Bluttransfusion….GROSSES RISIKO….würde der kleine Mann das alles überhaupt schaffen? Spielten wir mit seinem Leben?

Mein Mann versuchte mich aufzubauen: „Du machst Dir schon wieder so viele Gedanken! Es geht schon alles gut!“ …er hatte ja keine Ahnung was der Arzt alles von sich gegeben hatte – und das sollte auch so bleiben!

In dieser Nacht blieb mein Mann in der Klinik und ich ging in die Pension. Geschlafen habe ich kaum. Dauernd war da dieses Gefühl das ich in die Klinik gehen und die letzten Stunden mit meinem Kind genießen muss – weil ich nicht weiß ob ich nach dem morgigen Tag mein Kind noch in den Arm nehmen kann. Diese Nacht war der blanke Horror.

Und der kommende Morgen erst recht…mir war soooo übel, mein Hals war sooo eng. Ich wollte heulen und schreien und immer noch wegrennen. Ging aber alles nicht weil ich Jonathan auch keine Angst machen durfte….

Für die Operation waren insgesamt 6 Stunden angesetzt, mit Ein- und Ausleitung der Narkose. Deswegen war Jonathan zumindest der Erste im Op damit er nicht so lange ohne Essen und Trinken war. Also mussten wir diesen „Vor-Op-Horror“ wenigstens nicht sooo lange aushalten.

Der kleine Mann bekam ein Beruhigungsmittel und dann brachten wir ihn zur Schleuse wo die Anästhesisten ihn in Empfang nahmen.

„Ihr Kind ist heute mein Kind!“…sicher ein Standart-Satz. Aber er hat mir ein bisschen geholfen.  

Mein Mann und ich sind einkaufen gegangen und dann in die Pension. Ich habe gelesen, er gearbeitet. Geredet haben wir nicht viel. Dazu habe ich in solchen Momenten keine Lust.

Irgendwie ging die Zeit rum und früher als vermutet rief die Klinik an das wir zu Jonathan könnten, es sei alles gut.

Ich bin die 400 Meter fast geflogen…lach…diese Erleichterung!! Er war noch da, er hatte es geschafft….ohne Bluttransfusion und den ganzen Horror.

Als wir im Aufwachraum ankamen schlief er noch. Ich musste so weinen: da war er. Mein „Pupi“ (so nennen wir ihn schon EWIG!). Es ging ihm gut….ein bisschen blass wegen dem Blutverlust und ein wenig kalt war er. Aber ansonsten alles top. GOTT SEI DANK!!

Der Arzt kam zu uns und erzählte das medizinisch alles gut gegangen war: die Kniescheibe war nun da wo sie hingehörte. Das Bein FAST grade, die geringfügige Neigung würde in den nächsten Tagen manuell gestreckt werden. Jonathans Sehnen und Muskeln waren viel stärker als man es bei seinen dünnen Beinen erwartete und „wunderschön“.

Auf die Frage des Arztes: „Wollen Sie mal sehen, ich habe Fotos gemacht!“…habe ich so vehement wie selten geantwortet: „Fotos vom OFFENEN BEIN??? NEIN, danke!“….allein die Frage zu stellen: WELCHE MUTTER will das sehen, bitteschön???….ich war ein wenig perplex und …entsetzt???

Aber…wir nahmen in den USA an einer Studie teil und ich weiß dass dort ALLES von Interesse ist. Also bat ich den Arzt die Fotos nach Amerika zum Forschungsteam zu schicken. Dort würden sie sehr interessiert angenommen werden – umsonst waren sie also nicht gemacht worden!


Bald ging es dann auch schon ins Überwachungszimmer, hier sollten wir 24 Stunden bleiben: Jonathans Werte mussten kontrolliert werden. Man wollte wegen des seltenen Gendefektes auf Nummer sicher gehen.

Der Gips den er hatte war einfach nur RIESIG an dem kleinen Kerl.

Das operierte Bein war eingegipst und um seine Hüfte herum verlief ein Gipsring: fast bis unter die Brust, um den Gips zu stabilisieren und ihn dazu zu nötigen das Bein ruhig zu halten. Aber dadurch war Jonathan dermaßen eingeschränkt das er nicht sitzen konnte. Auf dem Bauch liegen und stehen ging in den ersten Tagen auch nicht wegen der Schmerzen. Also konnte er nur auf dem Rücken liegen….das war aber nicht unbedingt die Position die er gut fand. Hatte er doch grade erst krabbeln gelernt!!!

Die Erinnerung an diese Zeit macht mir immer noch zu schaffen und ich kann nicht alles detailliert berichten. Es wäre zu viel und würde mich vermutlich auch überfordern.

Aber es waren schlimme….ZWEI WOCHEN….hier. Eigentlich gibt es nur negatives zu berichten.

Jonathan hat viel geschrien. Ob vor Schmerzen oder aus Wut weil er sich nicht bewegen konnte: können wir nicht genau sagen.
Wir waren noch nie mit dem kleinen Mann in einer Situation wo er so viele Schmerzen hätte „haben können“. Wir waren aber auch noch nie in einer Situation wo er so gefrustet „hätte sein können“.

Wir haben also nach bestem Wissen und Gewissen Medikamente verabreicht und versucht ihn abzulenken und es ihm so schön als möglich zu machen.
Aber…er hat 13 Tage lang NUR GESCHRIEN. Komplett und durchgehend. Kaum geschlafen. Essen und Trinken eingestellt. Es war der Horror!!! Wir haben ihn zum Essen gezwungen und das ist etwas das man als Eltern nicht machen sollte…aber an ihm war sowieso kaum was dran und wenn er dann noch seine kleine Nahrungsmenge pro Tag ausfallen ließ….

Trinken haben wir ihm Tröpfchenweise mit einer Spritze eingeflößt und um jeden Milliliter gekämpft.

Marvin war mit den Großeltern auf Mallorca.
Wo nur wenige Kilometer vom Urlaubsort entfernt ein Unwetter mit Hochwasser, Sturm und Ausnahmezustand herrschte. An einem Tag konnte ich weder ihn noch meine Eltern erreichen und Nachrichten wurden nicht beantwortet. Ich war am Limit angekommen…

Und dann war die Organisation in der Klinik, ganz anders als im Frühsommer!, der BLANKE HORROR!!!

Aber das…ist eine längere Geschichte.