Freitag, 18. August 2017

Eineinhalb Wochen vor Jonathans erstem Geburtstag stand eine große Impfung an: MMRV, also Mumps/Masern/Röteln/Varizellen (Varizellen = Windpocken). Es war nicht seine erste Impfung und so rechnete ich mit Fieber für ein oder zwei Tage. Als ich mich auf den Weg zum Kinderarzt machte hatte ich schon den Medikamentenschrank kontrolliert: waren noch fiebersenkende Mittel da?? Und waren sie noch haltbar und voll?

Schon am Abend des Impftages hat Jonathan hohes Fieber bekommen und war schlapp und erschöpft. Aber wir waren ja darauf eingestellt und haben ihm gleich Medikamente gegeben. Ich weiß nicht mehr ob es am nächsten oder übernächsten Morgen war…aber er hat an Brust und Rücken Ausschlag bekommen…

Sofort habe ich beim Kinderarzt angerufen und bin zu ihm gefahren. Er schaute Jonathan an und fragte wie hoch das Fieber sei und ob es sinke wenn ich Medikamente geben würde – das tat es nur unwesentlich… Jonathan hatte eine Impfreaktion: bei 2 von 100 Kindern treten nach dieser Impfung Fieber und Ausschlag auf…also weiter Medikamente geben, schauen das er ordentlich trinkt und ausreichend schläft und dann einfach abwarten. Okay…ich war etwas beruhigt.

Es vergingen dann noch ein oder zwei Tage…der Ausschlag wurde immer stärker. Breitete sich über den ganzen Körper und das Gesicht aus. So etwas hatte ich noch nicht gesehen! Es waren rote Flecken mit unregelmäßigen Rändern, manche flach und manche etwas erhaben, schorfig und/oder pickelig.

Jonathan hat nur noch geschrien. Das Fieber war nicht unter 39 Grad Celsius zu bekommen und er wollte weder essen noch trinken. Vormittags lag er in meinem Arm und weinte so furchtbar, er klang einfach gequält. Ich sah dass er schlafen wollte aber immer wieder wachte er auf und schrie wie am Spieß. Nach einer Stunde wurde ich total unruhig. Mir war schlecht und ich bekam Angst. Ich wollte SOFORT mit meinem Kinderarzt sprechen, irgendwas stimmte da nicht.

Ich habe in der Praxis angerufen und bin sofort losgefahren. Vorher habe ich noch meinem Mann eine SMS geschrieben, dass er früher Feierabend machen und heimkommen soll denn irgendwas sei ganz und gar nicht in Ordnung.

Mein Kinderarzt warf einen Blick auf Jonathan und sagte dass dies eine so starke Impfreaktion sei wie er sie seit bestimmt 10 Jahren nicht mehr gesehen habe.

Ich sollte weiterhin viel zu trinken anbieten und die Räume in denen wir uns aufhalten abdunkeln: Jonathan würden die Augen wehtun wenn es zu hell sei. Wir bekamen eine Creme mit der ich den Ausschlag eincremen sollte damit er nicht juckt. Auch weiterhin Fiebersenkende Medikamente geben - Ibuprofen und Paracetamol immer im Wechsel und das alle paar Stunden. Wenn das Fieber nicht sinken würde: Brustwickel. Und zur Not erneut beim Kinderarzt anrufen.  

Jetzt wusste ich was mit Jonathan los war und ich konnte etwas dagegen unternehmen. Ich war erleichtert und ruhig als ich nach Hause fuhr. Das würden wir schon überstehen: in eine paar Tagen war der Spuk vorbei!

Mein Mann kam trotzdem früher von der Arbeit nach Hause. Wir haben zu Abend gegessen. Ich habe noch ein paar Fotos von Jonathan gemacht weil ich dachte das ich den Ausschlag dokumentieren muss: damit ich später anderen Eltern von MOPD-Kindern nahe legen kann diese Impfungen einzeln durchführen zu lassen um das Risiko einer so starken Reaktion zu minimieren….

Dann hat mein Mann Jonathan genommen und ist mit ihm kuscheln gegangen während ich in der Küche für Ordnung gesorgt habe. Und plötzlich…

(..ich bekomme immer noch Gänsehaut und es ist SEHR schwer für mich diese Momente noch einmal zu durchleben während ich sie aufschreibe…dieser heutige Bericht ist für MICH der emotionalste den ich bisher geschrieben und veröffentlicht habe…und ich habe für diese wenigen Seiten fast zwei Wochen gebraucht - weil ich oftmals nicht mehr in der Lage war weiter zu schreiben und mich in diese Momente zurückzuversetzen….auch Korrektur lesen war mir nicht möglich, deswegen entschuldigt Grammatik und/oder Rechtschreibfehler…)

…schrie mein Mann: „Komm schnell! Ich glaube er hat einen Krampf!“…ich dachte zuerst an einen Krampf im Bein, einen Wadenkrampf..ich habe mir gar nichts schlimmes dabei gedacht. Aber da mein Mann so laut und vehement gerufen hat bin ich aus der Küche Richtung Wohnzimmer gelaufen, mein Mann kam mir schon entgegen und hielt mir unseren Sohn hin. Ich habe ihn genommen und betrachtet: er war schlaff, die Augen waren verdreht und schauten nach rechts oben – es war fast nur weiß zu sehen, dabei zuckte er unkontrolliert mit dem Kopf und reagierte nicht auf Ansprache.

Mir wurde flau….die Ärzte in der Klinik hatten uns wegen der Hirnfehlbildungen Krämpfe prophezeit. Unser Kinderarzt hatte zu Anfang immer wieder heruntergebetet wie ich reagieren solle wenn Jonathan einen Krampf bekäme. Aber mit der Zeit hatten wir alle verdrängt dass so etwas passieren könnte!!! Wenn die Monate ins Land gehen und nichts Schlimmes passiert dann wähnt man sich auf der sicheren Seite und vergisst die Gefahr.

Jetzt hieß es aber einen kühlen Kopf bewahren und sich daran erinnern was der Kinderarzt gesagt hatte….

Ich habe meinem Mann Jonathan zurückgegeben und gesagt dass er ihn in die stabile Seitenlage bringen soll. Auf Jonis Zunge und ein mögliches Erbrechen achten soll und ich in der Zeit den Notarzt rufen würde.

Für mich wäre es in diesem Moment nicht möglich gewesen mich mit Jonathan zu befassen. Sein Gesichtsausdruck, das Zucken…ich konnte das NICHT ertragen!! Und wollte das auch nicht anschauen müssen. Zum Glück war DAS für meinen Mann ok, er hätte aber nicht die richtigen Worte gefunden um dem Notarzt deutlich zu machen was bei uns grade geschah. Wir machten also Teamwork…

Ich sagte dem Notruf genau das was mein Kinderarzt mir aufgetragen hatte zu sagen: „Hallo, mein Kind hat einen extrem seltenen Gendefekt. Er hat eine Lissenzephalie (das bedeutet: glattes Gehirn, ohne Windungen) und die Neigung zu Krämpfen. Er krampft grade und wir brauchen sofort einen Arzt.“

Gefühlte Ewigkeiten vergingen…in dieser Zeit habe ich meinen Vater angerufen und im Kasernenhof-Ton erklärt: „Jonathan hat einen Krampf, der Notarzt kommt, wir müssen in die Klinik. Komm bitte her und kümmere Dich um Marvin!“ …und die Tasche für die Klinik gepackt: für meinen Mann und auch für Jonathan. All das konnte ich tun. Aber mein Kind ansehen konnte ich nicht. Ich habe es nicht ertragen ihn so zu sehen. Unter Krämpfen, das Gesicht entstellt, unkontrolliert zuckend und nicht ansprechbar.

Für meinen Mann war das kein Problem. Er lag mit Jonathan auf dem Boden, hat ihn in der Seitenlage gehalten und gesungen…ich hätte keinen einzigen Ton herausbekommen!!

Dann steht mein Mann plötzlich auf und sagt: „Es ist vorbei, er krampft nicht mehr!“ Ich renne hin, es stimmt. Jonathan ist entspannt und sieht mich an. Erleichterung!!! Uffff….zum Glück!!

Und dann ging es direkt wieder los….er zuckte…die Augen verdreht…bekam nichts mehr von seiner Umgebung mit.

Mein Mann hat sich mit ihm wieder auf den Boden gelegt und zum Glück kam dann auch der Notarzt. Ich habe alles heruntergebetet was der Kinderarzt mir aufgetragen hat: welche Medikamente er bekommt und was das Problem mit seinem Gehirn ist…der Arzt solle bitte einfach direkt etwas Entkrampfendes spritzen. Zum Glück hat der Arzt meine Aussagen auch nicht in Frage gestellt. Aber er hat vorher noch in unserer betreuenden Kinderklinik angerufen: Jonathans Größe und Gewicht haben ihm Sorgen gemacht, er wollte wissen wie viel Milligramm Medikament er ihm geben darf.

Auf dem Boden im Wohnzimmer lagen nun mein Mann und Jonathan, der immer noch krampfte, der Notarzt und zwei Sanitäter. Damit die zwischendurch mal ans Auto gehen konnten stand die Haustür offen. Und auf einmal stand mein Vater im Raum…er blickte auf die Szene: die ganzen Menschen, Müll von medizinischem Material, Geräte und zwischendrin sein Enkel. Mein Vater war sehr betroffen und musste erstmal feste schlucken.

Mittlerweile hatten wir auch Marvin, der im Obergeschoss in seinem Zimmer gewesen war, gerufen und ihm erklärt was hier grade passierte. Ich machte mir große Sorgen um ihn: würde ihn das sehr schocken seinen Bruder so zu sehen?? Würde er es verkraften?? Zudem hatte ich zu diesem Zeitpunkt Angst, das Jonathan sterben könnte – und Marvin wäre dann live dabei. Aber…was sollte ich tun? Ich musste es dem Großen ja sagen! Ich konnte ja schlecht einfach ins Krankenhaus verschwinden und ihn allein und im Ungewissen lassen….das wäre mit Sicherheit noch schlimmer als ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren. Zumal wir Marvin von Anfang an immer die Wahrheit gesagt hatten was seinen Bruder betraf.

Nun saßen Marvin und mein Papa also auf der Couch. Der Notarzt hatte mittlerweile mit dem Krankenhaus telefoniert und sogar eine Ärztin erreicht die uns noch aus Krankenhauszeiten kannte, er musste also nicht viel zum Krankheitsbild erklären. Er bekam das OK für DIAZEPAM, und zwar 5mg rektal. Jeder, der medizinisch etwas versiert ist, weiß das diese Dosis auch für Kinder mit 20/25 Kilogramm Körpergewicht ausreicht – und Jonathan hatte zu diesem Zeitpunkt etwas über 3kg Gewicht.

Dementsprechend war Jonathan kurz nach der Medikamentengabe mehr als benommen, sozusagen „komplett weg geschossen“…aber der Krampfanfall war vorbei und er stabil genug zum Transport. In „unsere“ Kinderklinik, man hatte uns dort schon angekündigt.

Ich bin mit dem Krankenwagen mit gefahren weil ich mich nicht in der Lage fühlte jetzt ein Auto zu steuern. Mein Mann kam mit dem Auto hinterher. Und mein Vater blieb bei Marvin, mit „open end“: wir hatten keine Ahnung wie lange es dauern würde…welche Untersuchungen notwendig sein würden. Ob ein neuer Krampfanfall kommen würde….

Ich muss jetzt mal einen Dank loswerden - speziell an meinen Papa….er ist wirklich IMMER da!! IMMER! Sei es der Notkaiserschnitt spät am Abend oder der Krampfanfall: er kommt zu uns und bleibt wenn nötig die halbe Nacht bei uns sitzen damit Marvin nicht allein ist. In den Ferien unternimmt er mit Marvin und einem oder zwei seiner Freunde sehr viel, damit der Große auch was von den Ferien hat. Wenn Marvin den Schulbus verpasst oder nachmittags zu Freunden in einem anderen Ort möchte: mein Papa fährt ihn. Außerdem kauft er mir ein wenn Not am Mann ist und kümmert sich um unseren Garten. Oftmals kocht er auch mittags für uns wenn ich es nicht geschafft habe weil ein langer Termin mit Jonathan anstand. Alles in allem: mein Papa ist mit Gold nicht aufzuwiegen!! Ich bin so dankbar ihn zu haben…DANKE PAPA! FÜR ALLES!!

So, das musste jetzt mal gesagt werden!

Aber zurück zur Fahrt in die Kinderklinik. Der Arzt ist im Krankenwagen mit gefahren und hat abwechselnd mit mir Jonathan in der Seitenlage festgehalten – um ihn zu fixieren war der kleine Mann viel zu klein, selbst die Baby-Gurte waren für ihn meilenweit zu groß! Wir waren circa 40 Minuten unterwegs und bei  mir kamen schon die ersten Fragen nach den Konsequenzen auf: hatte Jonathans Hirn durch den Anfall Schaden genommen?? Sein Gehirn war ja sowieso schon nicht gesund, wenn jetzt noch durch den Anfall etwas kaputt gegangen war??? Außerdem lag Jonathan vor mir als sei er im Koma: würde er wieder aufwachen??? So viele Fragen die mich beschäftigten und mir RIESIGE ANGST machten…..

Echt unfassbar für mich ist: ich saß noch nicht richtig im Krankenwagen als mich schon die erste SMS erreichte in der ich gefragt wurde was denn der Krankenwagen bei uns macht…und diese SMS kam von jemandem der keinen direkten Blick auf unsere Hofeinfahrt hatte. Das bedeutet wohl dass unmittelbar nach Eintreffen des Notarztes schon herum telefoniert wurde um diese „Neuigkeit“ zu verbreiten! Aus Neugier?? Es zuerst zu wissen und  weiter erzählen zu können???

Vielleicht..denn ehrlich: jemand der WIRKLICH Anteil nimmt und sich Sorgen macht…der belästigt die Betroffenen in so einem Moment sicherlich NICHT mit Fragen!!

Ich kenne die Gründe für diese „Aktion“ nicht und es ist mir auch egal: ich habe diese SMS erst viele Stunden später gelesen. Aber selbst wenn ich sie zeitnah gelesen hätte glaube ich nicht dass ich darauf reagiert hätte weil ich es einfach MEHR als unangemessen fand.