Eineinhalb
Wochen vor Jonathans erstem Geburtstag stand eine große Impfung an: MMRV, also Mumps/Masern/Röteln/Varizellen
(Varizellen = Windpocken). Es war nicht seine erste Impfung und so rechnete ich
mit Fieber für ein oder zwei Tage. Als ich mich auf den Weg zum Kinderarzt
machte hatte ich schon den Medikamentenschrank kontrolliert: waren noch
fiebersenkende Mittel da?? Und waren sie noch haltbar und voll?
Schon am
Abend des Impftages hat Jonathan hohes Fieber bekommen und war schlapp und
erschöpft. Aber wir waren ja darauf eingestellt und haben ihm gleich
Medikamente gegeben. Ich weiß nicht mehr ob es am nächsten oder übernächsten
Morgen war…aber er hat an Brust und Rücken Ausschlag bekommen…
Sofort
habe ich beim Kinderarzt angerufen und bin zu ihm gefahren. Er schaute Jonathan
an und fragte wie hoch das Fieber sei und ob es sinke wenn ich Medikamente
geben würde – das tat es nur unwesentlich… Jonathan hatte eine Impfreaktion:
bei 2 von 100 Kindern treten nach dieser Impfung Fieber und Ausschlag auf…also weiter
Medikamente geben, schauen das er ordentlich trinkt und ausreichend schläft und
dann einfach abwarten. Okay…ich war etwas beruhigt.
Es vergingen
dann noch ein oder zwei Tage…der Ausschlag wurde immer stärker. Breitete sich
über den ganzen Körper und das Gesicht aus. So etwas hatte ich noch nicht
gesehen! Es waren rote Flecken mit unregelmäßigen Rändern, manche flach und
manche etwas erhaben, schorfig und/oder pickelig.
Jonathan
hat nur noch geschrien. Das Fieber war nicht unter 39 Grad Celsius zu bekommen
und er wollte weder essen noch trinken. Vormittags lag er in meinem Arm und
weinte so furchtbar, er klang einfach gequält. Ich sah dass er schlafen wollte
aber immer wieder wachte er auf und schrie wie am Spieß. Nach einer Stunde
wurde ich total unruhig. Mir war schlecht und ich bekam Angst. Ich wollte
SOFORT mit meinem Kinderarzt sprechen, irgendwas stimmte da nicht.
Ich habe
in der Praxis angerufen und bin sofort losgefahren. Vorher habe ich noch meinem
Mann eine SMS geschrieben, dass er früher Feierabend machen und heimkommen soll
denn irgendwas sei ganz und gar nicht in Ordnung.
Mein
Kinderarzt warf einen Blick auf Jonathan und sagte dass dies eine so starke
Impfreaktion sei wie er sie seit bestimmt 10 Jahren nicht mehr gesehen habe.
Ich
sollte weiterhin viel zu trinken anbieten und die Räume in denen wir uns
aufhalten abdunkeln: Jonathan würden die Augen wehtun wenn es zu hell sei. Wir
bekamen eine Creme mit der ich den Ausschlag eincremen sollte damit er nicht
juckt. Auch weiterhin Fiebersenkende Medikamente geben - Ibuprofen und
Paracetamol immer im Wechsel und das alle paar Stunden. Wenn das Fieber nicht
sinken würde: Brustwickel. Und zur Not erneut beim Kinderarzt anrufen.
Jetzt
wusste ich was mit Jonathan los war und ich konnte etwas dagegen unternehmen.
Ich war erleichtert und ruhig als ich nach Hause fuhr. Das würden wir schon
überstehen: in eine paar Tagen war der Spuk vorbei!
Mein Mann
kam trotzdem früher von der Arbeit nach Hause. Wir haben zu Abend gegessen. Ich
habe noch ein paar Fotos von Jonathan gemacht weil ich dachte das ich den
Ausschlag dokumentieren muss: damit ich später anderen Eltern von MOPD-Kindern
nahe legen kann diese Impfungen einzeln durchführen zu lassen um das Risiko
einer so starken Reaktion zu minimieren….
Dann hat
mein Mann Jonathan genommen und ist mit ihm kuscheln gegangen während ich in
der Küche für Ordnung gesorgt habe. Und plötzlich…
(..ich
bekomme immer noch Gänsehaut und es ist SEHR schwer für mich diese Momente noch
einmal zu durchleben während ich sie aufschreibe…dieser heutige Bericht ist für
MICH der emotionalste den ich bisher geschrieben und veröffentlicht habe…und
ich habe für diese wenigen Seiten fast zwei Wochen gebraucht - weil ich oftmals
nicht mehr in der Lage war weiter zu schreiben und mich in diese Momente
zurückzuversetzen….auch Korrektur lesen war mir nicht möglich, deswegen
entschuldigt Grammatik und/oder Rechtschreibfehler…)
…schrie
mein Mann: „Komm schnell! Ich glaube er hat einen Krampf!“…ich dachte zuerst an
einen Krampf im Bein, einen Wadenkrampf..ich habe mir gar nichts schlimmes
dabei gedacht. Aber da mein Mann so laut und vehement gerufen hat bin ich aus
der Küche Richtung Wohnzimmer gelaufen, mein Mann kam mir schon entgegen und
hielt mir unseren Sohn hin. Ich habe ihn genommen und betrachtet: er war
schlaff, die Augen waren verdreht und schauten nach rechts oben – es war fast
nur weiß zu sehen, dabei zuckte er unkontrolliert mit dem Kopf und reagierte
nicht auf Ansprache.
Mir wurde
flau….die Ärzte in der Klinik hatten uns wegen der Hirnfehlbildungen Krämpfe
prophezeit. Unser Kinderarzt hatte zu Anfang immer wieder heruntergebetet wie
ich reagieren solle wenn Jonathan einen Krampf bekäme. Aber mit der Zeit hatten
wir alle verdrängt dass so etwas passieren könnte!!! Wenn die Monate ins Land
gehen und nichts Schlimmes passiert dann wähnt man sich auf der sicheren Seite
und vergisst die Gefahr.
Jetzt hieß
es aber einen kühlen Kopf bewahren und sich daran erinnern was der Kinderarzt
gesagt hatte….
Ich habe
meinem Mann Jonathan zurückgegeben und gesagt dass er ihn in die stabile
Seitenlage bringen soll. Auf Jonis Zunge und ein mögliches Erbrechen achten
soll und ich in der Zeit den Notarzt rufen würde.
Für mich
wäre es in diesem Moment nicht möglich gewesen mich mit Jonathan zu befassen.
Sein Gesichtsausdruck, das Zucken…ich konnte das NICHT ertragen!! Und wollte
das auch nicht anschauen müssen. Zum Glück war DAS für meinen Mann ok, er hätte
aber nicht die richtigen Worte gefunden um dem Notarzt deutlich zu machen was
bei uns grade geschah. Wir machten also Teamwork…
Ich sagte
dem Notruf genau das was mein Kinderarzt mir aufgetragen hatte zu sagen:
„Hallo, mein Kind hat einen extrem seltenen Gendefekt. Er hat eine
Lissenzephalie (das bedeutet: glattes Gehirn, ohne Windungen) und die Neigung
zu Krämpfen. Er krampft grade und wir brauchen sofort einen Arzt.“
Gefühlte
Ewigkeiten vergingen…in dieser Zeit habe ich meinen Vater angerufen und im
Kasernenhof-Ton erklärt: „Jonathan hat einen Krampf, der Notarzt kommt, wir
müssen in die Klinik. Komm bitte her und kümmere Dich um Marvin!“ …und die
Tasche für die Klinik gepackt: für meinen Mann und auch für Jonathan. All das
konnte ich tun. Aber mein Kind ansehen konnte ich nicht. Ich habe es nicht
ertragen ihn so zu sehen. Unter Krämpfen, das Gesicht entstellt, unkontrolliert
zuckend und nicht ansprechbar.
Für
meinen Mann war das kein Problem. Er lag mit Jonathan auf dem Boden, hat ihn in
der Seitenlage gehalten und gesungen…ich hätte keinen einzigen Ton
herausbekommen!!
Dann
steht mein Mann plötzlich auf und sagt: „Es ist vorbei, er krampft nicht mehr!“
Ich renne hin, es stimmt. Jonathan ist entspannt und sieht mich an.
Erleichterung!!! Uffff….zum Glück!!
Und dann
ging es direkt wieder los….er zuckte…die Augen verdreht…bekam nichts mehr von
seiner Umgebung mit.
Mein Mann
hat sich mit ihm wieder auf den Boden gelegt und zum Glück kam dann auch der
Notarzt. Ich habe alles heruntergebetet was der Kinderarzt mir aufgetragen hat:
welche Medikamente er bekommt und was das Problem mit seinem Gehirn ist…der
Arzt solle bitte einfach direkt etwas Entkrampfendes spritzen. Zum Glück hat
der Arzt meine Aussagen auch nicht in Frage gestellt. Aber er hat vorher noch
in unserer betreuenden Kinderklinik angerufen: Jonathans Größe und Gewicht
haben ihm Sorgen gemacht, er wollte wissen wie viel Milligramm Medikament er
ihm geben darf.
Auf dem
Boden im Wohnzimmer lagen nun mein Mann und Jonathan, der immer noch krampfte,
der Notarzt und zwei Sanitäter. Damit die zwischendurch mal ans Auto gehen
konnten stand die Haustür offen. Und auf einmal stand mein Vater im Raum…er
blickte auf die Szene: die ganzen Menschen, Müll von medizinischem Material,
Geräte und zwischendrin sein Enkel. Mein Vater war sehr betroffen und musste
erstmal feste schlucken.
Mittlerweile
hatten wir auch Marvin, der im Obergeschoss in seinem Zimmer gewesen war,
gerufen und ihm erklärt was hier grade passierte. Ich machte mir große Sorgen
um ihn: würde ihn das sehr schocken seinen Bruder so zu sehen?? Würde er es
verkraften?? Zudem hatte ich zu diesem Zeitpunkt Angst, das Jonathan sterben
könnte – und Marvin wäre dann live dabei. Aber…was sollte ich tun? Ich musste
es dem Großen ja sagen! Ich konnte ja schlecht einfach ins Krankenhaus
verschwinden und ihn allein und im Ungewissen lassen….das wäre mit Sicherheit
noch schlimmer als ihn mit der Wahrheit zu konfrontieren. Zumal wir Marvin von
Anfang an immer die Wahrheit gesagt hatten was seinen Bruder betraf.
Nun saßen
Marvin und mein Papa also auf der Couch. Der Notarzt hatte mittlerweile mit dem
Krankenhaus telefoniert und sogar eine Ärztin erreicht die uns noch aus
Krankenhauszeiten kannte, er musste also nicht viel zum Krankheitsbild
erklären. Er bekam das OK für DIAZEPAM, und zwar 5mg rektal. Jeder, der
medizinisch etwas versiert ist, weiß das diese Dosis auch für Kinder mit 20/25
Kilogramm Körpergewicht ausreicht – und Jonathan hatte zu diesem Zeitpunkt
etwas über 3kg Gewicht.
Dementsprechend
war Jonathan kurz nach der Medikamentengabe mehr als benommen, sozusagen
„komplett weg geschossen“…aber der Krampfanfall war vorbei und er stabil genug
zum Transport. In „unsere“ Kinderklinik, man hatte uns dort schon angekündigt.
Ich bin
mit dem Krankenwagen mit gefahren weil ich mich nicht in der Lage fühlte jetzt
ein Auto zu steuern. Mein Mann kam mit dem Auto hinterher. Und mein Vater blieb
bei Marvin, mit „open end“: wir hatten keine Ahnung wie lange es dauern
würde…welche Untersuchungen notwendig sein würden. Ob ein neuer Krampfanfall
kommen würde….
Ich muss
jetzt mal einen Dank loswerden - speziell an meinen Papa….er ist wirklich IMMER
da!! IMMER! Sei es der Notkaiserschnitt spät am Abend oder der Krampfanfall: er
kommt zu uns und bleibt wenn nötig die halbe Nacht bei uns sitzen damit Marvin
nicht allein ist. In den Ferien unternimmt er mit Marvin und einem oder zwei
seiner Freunde sehr viel, damit der Große auch was von den Ferien hat. Wenn
Marvin den Schulbus verpasst oder nachmittags zu Freunden in einem anderen Ort
möchte: mein Papa fährt ihn. Außerdem kauft er mir ein wenn Not am Mann ist und
kümmert sich um unseren Garten. Oftmals kocht er auch mittags für uns wenn ich
es nicht geschafft habe weil ein langer Termin mit Jonathan anstand. Alles in
allem: mein Papa ist mit Gold nicht aufzuwiegen!! Ich bin so dankbar ihn zu haben…DANKE
PAPA! FÜR ALLES!!
So, das
musste jetzt mal gesagt werden!
Aber
zurück zur Fahrt in die Kinderklinik. Der Arzt ist im Krankenwagen mit gefahren
und hat abwechselnd mit mir Jonathan in der Seitenlage festgehalten – um ihn zu
fixieren war der kleine Mann viel zu klein, selbst die Baby-Gurte waren für ihn
meilenweit zu groß! Wir waren circa 40 Minuten unterwegs und bei mir kamen schon die ersten Fragen nach den
Konsequenzen auf: hatte Jonathans Hirn durch den Anfall Schaden genommen?? Sein
Gehirn war ja sowieso schon nicht gesund, wenn jetzt noch durch den Anfall etwas
kaputt gegangen war??? Außerdem lag Jonathan vor mir als sei er im Koma: würde
er wieder aufwachen??? So viele Fragen die mich beschäftigten und mir RIESIGE
ANGST machten…..
Echt
unfassbar für mich ist: ich saß noch nicht richtig im Krankenwagen als mich
schon die erste SMS erreichte in der ich gefragt wurde was denn der Krankenwagen
bei uns macht…und diese SMS kam von jemandem der keinen direkten Blick auf
unsere Hofeinfahrt hatte. Das bedeutet wohl dass unmittelbar nach Eintreffen
des Notarztes schon herum telefoniert wurde um diese „Neuigkeit“ zu verbreiten!
Aus Neugier?? Es zuerst zu wissen und weiter erzählen zu können???
Vielleicht..denn
ehrlich: jemand der WIRKLICH Anteil nimmt und sich Sorgen macht…der belästigt
die Betroffenen in so einem Moment sicherlich NICHT mit Fragen!!
Ich kenne
die Gründe für diese „Aktion“ nicht und es ist mir auch egal: ich habe diese
SMS erst viele Stunden später gelesen. Aber selbst wenn ich sie zeitnah gelesen
hätte glaube ich nicht dass ich darauf reagiert hätte weil ich es einfach MEHR
als unangemessen fand.