Wir kamen
in der Kinderklinik an (mein Mann war mit dem Auto direkt hinter dem
Krankenwagen geblieben und deswegen zeitgleich vor Ort) und wurden sofort in
einen Behandlungsraum gebracht. Die Ärztin die Dienst hatte kannte uns schon
aus unseren Klinikzeiten, außerdem hatte sich schon herum gesprochen dass wir
auf dem Weg waren und so kamen noch zwei Schwestern der Neonatologie vorbei um
nach uns zu sehen. Das war wirklich sehr sehr schön und wichtig für mich! Ich
fühlte mich mit bekannten Menschen um mich herum gleich viel ruhiger.
Mein Mann
kümmerte sich um Jonathan, zog ihn aus und half der Schwester die Dioden und
das Gerät zur Messung der Sauerstoffsättigung an ihm zu befestigen. Ich konnte
Jonathan nicht anfassen, und auch nicht wirklich ansehen: er hing wie ein
kleiner Sack in den Armen meines Mannes – komplett schlaff…die Augen halb offen
und verdreht. Dabei gab er leise fiepende Geräusche von sich, als wolle er
weinen und es ginge nicht…er sah einfach…geistig schwerstbehindert aus! Und
nicht mehr wie mein Sohn der mich wach und neugierig betrachtete. Ich konnte es
nicht ertragen ihn so zu sehen…vor allem nicht mit dem Hintergedanken das das
Gehirn am Ende Schaden genommen haben und der Zustand dauerhaft so bleiben
könnte!
Ich
konnte das Weinen nicht mehr unterdrücken…und ließ einfach los…die Ärztin und
die Schwestern kannte ich schon, und es waren nicht die ersten Tränen die ich
in dieser Klinik vergoss, also…
Diese
Eindrücke und Bilder…bekomme ich bis heute nicht aus meinem Kopf..und bis heute
habe ich Angst davor dass das wieder passieren könnte, diese Panik hat sich so
in meinem Kopf manifestiert: ich kann bei Hitze nicht mit Jonathan Auto fahren
aus Angst das er krampfen könnte…ich kann ihn nicht mit Blitzlicht
fotografieren lassen aus Angst das das einen Krampf auslösen könnte…ich kann es
nicht ertragen wenn er hysterisch schreit, am Ende bekommt er dann einen
Krampf?? Ja: alles das hat dieser eine Abend ausgelöst.
Ich saß
der Ärztin gegenüber, weinte und versuchte trotzdem ihre Fragen so genau wie
möglich zu beantworten: was hatten wir gemacht als Jonathan anfing zu krampfen?
Wie sah der Krampf aus? Wie lange hatte er gedauert?
Das war
alles so irreal! War ich wirklich wieder hier? Ging es meinem Kind wirklich
schlecht oder würde ich gleich aufwachen und alles war gut und wir zu Hause??
Es war
real und man wollte Jonathan über Nacht hier behalten und überwachen. Ich habe
meinem Mann gesagt dass ich nicht bleiben kann. Ich konnte Jonathan momentan
kaum ansehen, wie sollte ich mich da um ihn kümmern??? Weil ich schon zu Hause
gespürt hatte das diese Gefühle in mir waren hatte ich Kleidung für meinen Mann
eingepackt – und nicht für mich….Und wieder einmal war es gut das mein Mann so
ruhig und gelassen ist: ihm machte es überhaupt nichts aus bei unserem Kleinen
zu bleiben. Jonathan war sein Sohn und der brauchte ihn nun – also kümmerte
sich mein Mann um ihn. Ohne eine Träne zu vergießen oder zu jammern…
Ich habe
die beiden noch auf die Station begleitet und Jonathan einen Kuss gegeben, dann bin ich gefahren…irgendwie
erleichtert das ich diese Mauern der Klinik hinter mir lassen
konnte…andererseits auch wie in Trance weil ich nicht fassen konnte das wir
schon wieder mit dem Kleinen stationär in der Klinik waren!
Von der
Fahrt nach Hause habe ich irgendwie nicht viel mitbekommen. Meine Gedanken
schweiften ab…die Eindrücke dieses Abends, das Unverständnis über das was heute
passiert war…die Angst wie Marvin das verkraften würde…die Angst ob Jonathan
Schaden genommen hatte. Es war sehr viel was auf mich einstürzte….
Zu Hause
wartete mein Papa schon ungeduldig auf mich und Neuigkeiten. Ich konnte ihm
sagen dass der Krampf vorbei war, dass Jonathan soweit stabil sei. Aber ich
musste ihm auch erklären das uns niemand sagen könne ob sein Gehirn Schaden
genommen habe – ob er aufwachen würde…und wenn er aufwachte: ob er dann
derselbe war wie noch heute Nachmittag. Immerhin: er lebte..und war nun in den
besten Händen.
Marvin
hatte am nächsten Tag Schule und deswegen nicht auf mich warten dürfen. Doch
mein Papa erzählte mir das Marvin sehr mitgenommen gewesen sei, er habe große
Angst um seinen Bruder ausgestanden…Angst das sein Bruder sterben könne – wie
Marvins Papa ein paar Jahre zuvor.
Deswegen
bin ich zu Marvin gegangen, habe ihn geweckt und ihm gesagt das alles gut sei
und Jonathan am Leben. Danach konnte mein Großer gut und ruhig schlafen…
Im
Gegensatz zu mir..zuerst musste ich das Wohnzimmer aufräumen: die Verpackungen
und Materialien die der Notarzt benutzt hatte lagen noch herum…die ganze
Situation wurde real für mich, ich hatte die Bilder von vorhin wieder im Kopf…
…ganz ehrlich?
Ich habe mir erst mal einen doppelten Whiskey genehmigt und bin dann ins Bett
gegangen…aber ich war unruhig…träumte schlecht in dieser Nacht und bin früh
aufgestanden weil es nichts mehr gebracht hätte sich weiter im Bett hin und her
zu drehen, ich fand ja doch keine Ruhe.
Ich habe
Marvin Schulbrote gemacht und als er aufgestanden war habe ich ihm gesagt dass
er nach der Schule zu seinen Großeltern ginge weil ich in die Klinik fahren
würde.
Als ich
grade losfahren wollte Richtung Klinik bekam ich eine SMS von meinem Mann: „Er
krampft schon wieder.“ Ich habe auf´s Handy gestarrt und konnte die Worte
trotzdem nicht richtig sehen. Habe geantwortet dass ich losfahre, aber im
Berufsverkehr sicherlich zwischen 45 und 60 Minuten für den Weg benötigen
würde.
Ich war
wie in Trance. Und hoffe das niemals ein Polizist diesen Blog liest, denn ich
habe während der Fahrt einige SMSen meines Mannes gelesen: „Die Ärzte bringen
Jonathan jetzt auf die Intensivstation.“ ..und: „Er krampft immer noch.“……“er
krampft jetzt seit fast 45 Minuten“….“Ich wurde aus dem Zimmer geschickt, der
Klinikleiter ist bei ihm.“…
Während
der Fahrt dachte ich wirklich dass ich mein Kind nicht mehr lebend sehen würde,
dass der Kuss am Abend davor der letzte gewesen sei. Diese Fahrt in die
Kinderklinik war die Hölle und es kam mir vor als würde ich mit meinem Auto
überhaupt nicht vorwärts kommen…
Doch
irgendwann war ich da und bin auf die Intensivstation gegangen. Mein Mann war
immer noch im Wartezimmer und hatte keine neuen Informationen. Es war eine
schreckliche Situation!! Dort zu sitzen, und nicht zu wissen was los war – ob
Jonathan überhaupt noch lebte??
Unsere
Gedanken standen im Raum und deswegen…so furchtbar das auch ist!...haben mein
Mann und ich uns in dieser Situation darüber unterhalten wie weit wir überhaupt
gehen wollen: welche Maßnahmen dürfen die Ärzte ergreifen und wo ist für uns
der Punkt gekommen Jonathan gehen zu lassen?? Er hat einen lebensverkürzenden
Gendefekt, wann sind Maßnahmen zur Wiederbelebung nicht mehr angemessen???
Ich denke
kaum jemand kann nachvollziehen wie es sich anfühlt nur wenige Meter von seinem
Kind entfernt darüber zu reden wann und wie man es sterben lassen will. Aber dieses
Gespräch war notwendig und wir HABEN es geführt. Doch welche Entscheidung wir
getroffen haben – bleibt bei uns, das ist zu persönlich um es zu teilen.
Die
Minuten dehnten sich und fühlten sich an wie Stunden. Mein Mann ging mehrfach
zu den Schwestern und fragte ob es etwas Neues gäbe, doch er bekam immer nur
die Antwort dass die Ärzte noch bei Jonathan seien und man uns informieren
werde sobald es etwas Neues gab.
Diese
Zeit der Ungewissheit und der Angst hat sich so in mein Gehirn eingebrannt das
ich heute noch das Muster auf der Tapete und jeden Fleck darauf aufmalen
könnte. Ich dachte wirklich dass ich mein Kind nicht mehr lebend sehen würde…
Doch
dann…teilte man uns mit das wir nun zu Jonathan könnten, er sei stabil. Er
hatte einen GRAND MALE ANFALL und der Klinikleiter hatte ihm einen ZVK (einen Zentralen
Venenkatheter) über den Hals ins Herz legen müssen um ihm Medikamente zu geben.
Er
lebte!!! Ich konnte es nicht glauben!! Allerdings konnte uns nun erst recht
niemand sagen ob sein Gehirn Schaden genommen hatte…der Anfall hatte SEHR LANGE
gedauert. Man würde mehr wissen wenn Jonathan aufwache…
Wir
durften zu ihm: da lag er…so klein und total verkabelt in seinem Bettchen.
Hochheben und ihn im Arm halten war nicht möglich wegen des ZVK, wir mussten
uns damit begnügen seine Hände festzuhalten oder ihn zu streicheln. Die
Schwestern sagten uns das er noch einige Stunden schlafen würde, das Medikament
das man ihm zur Krampflösung gegeben habe sei wirklich sehr stark.
Also
beschlossen mein Mann und ich uns nach dem Schreck in der Kantine des
Krankenhauses zu stärken und auch mal kurz durchzuatmen um den Schreck zu
verdauen.
Auf dem
Stationsflur begegneten wir dem Chirurgen der Jonathans Hodenhochstand
festgestellt hatte. Ich grüßte und wollte weitergehen, doch er hielt mich auf
und sagte dass er zu uns wolle. Er hätte auf der Belegungsliste gelesen dass
wir da seien und wollte sich mal erkundigen wie es Jonathan gehe.
Das hat
mich SCHWER beeindruckt!! Als Chirurg war er bei einem Krampfanfall mit
Sicherheit NICHT zuständig, das heißt dass sein Interesse wirklich unserem Sohn
galt. In diesem Moment habe ich ihm mein Herz geschenkt! Und es bis heute nicht
bereut. Er ist ein ganz toller Mensch und ein wundervoller Arzt. Wenn man ihn
kennt ist er weder kühl noch kurz angebunden – eher im Gegenteil! Er ist einer
der warmherzigsten Ärzte die wir kennen und hat ein EHRLICHES Interesse an
unserem Sohn. Ich bin sehr froh dass wir ihn kennengelernt haben!! Und gestehe
an dieser Stelle reuevoll ein dass mich mein erster Eindruck SEHR getäuscht
hat!!
Wir haben
also kurz mit diesem Arzt geredet und ihm alles erzählt, ihm auch unsere Ängste
darüber mitgeteilt das Jonathan einen bleibenden Hirnschaden davon getragen
haben könnte. Er versprach am nächsten Tag erneut bei uns vorbeizukommen und
nach uns zu sehen.
Mein Mann
und ich machten eine Pause, aßen und tranken etwas und gingen danach wieder auf
die Station - Jonathan schlief.
Zwei
Damen der Neurologie kamen vorbei um ein EEG zu machen. Sie „verkabelten“
Jonathan und begannen die Auswertung. Leider durften sie keine Aussagen zu den
Ergebnissen treffen, „das würde dann ein Arzt mit Ihnen besprechen“. Furchtbar
wenn man als Eltern so im Ungewissen gelassen wird!!! In so einer
beängstigenden Situation will man alles – aber nicht noch WARTEN auf neue
Befunde!!
Immerhin
konnte ich Hirnströme auf dem EEG sehen, das hieß das Hirnaktivität vorhanden
war und das war doch schon mal eine Erleichterung!
Es wurde
Nachmittag: Jonathan schlief immer noch und wir konnten hier momentan nichts weiter
für ihn tun, also beschlossen wir nach Hause zu fahren und mit Marvin zu
grillen. Für ihn war es auch ein Schock gewesen als Jonathan so unverhofft in
die Klinik gekommen war und wir wollten Zeit mit ihm verbringen.
Mit den
Schwestern haben wir vereinbart das sie sofort anrufen würden wenn Jonathan aufwache:
einer von uns würde dann in die Klinik zurückkommen. Wir wollten Jonathan in
die Augen sehen um zu beurteilen ob er noch genauso war wie vorher – oder eben
nicht. Denn das war etwas das uns große Sorgen und Angst machte. Ich hatte mich
ja mittlerweile mit der Tatsache arrangiert das ich ein behindertes Kind habe –
aber ein geistig SCHWERST behindertes Kind…das war weiterhin eine
Horrorvorstellung für mich und ich wollte so schnell als möglich wissen woran
ich war.
Wir
fuhren heim und grillten mit Marvin. Aber ich war mit meinen Gedanken woanders:
wie ging es Jonathan? War er wach? Warum riefen die Schwestern nicht an?
Schlief er etwa immer noch??
Nach dem
Essen meinte mein Mann das ich doch in der Klinik anrufen und nachfragen solle,
sonst hätte ich sowieso keine Ruhe. Also habe ich das gemacht. Und die Antwort
bekommen das Jonathan immer noch schlafe. Ich war entsetzt: er schlief immer
noch? Seit heute MORGEN? War das normal oder ein Zeichen für einen
Hirnschaden?? War es ein Koma? Würde er überhaupt jemals wieder aufwachen???
Und dann
hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Glaube ich. Ich habe geweint, gebrüllt und
geschrien: „Ich will das er bei mir ist. Ich will mein Baby. MEIN BABY!!
SOFORT!“ Habe mich auf dem Boden zusammen gekrümmt…konnte nicht aufhören zu
heulen und zu schreien. Es war einfach alles zu viel in diesem Moment. Die
Anspannung und die Belastung brach sich Bahn.
Mein Mann
hat mich ins Bett gebracht und mir eine Schlaftablette gegeben so dass ich
wenigstens etwas Ruhe finden konnte.
Am
nächsten Morgen ging es mir besser. Wir haben in der Klinik angerufen und man
teilte uns mit das Jonathan eben ganz kurz wach gewesen sei und ein wenig Milch
getrunken habe. Das war doch schon mal ein gutes Zeichen!!!
Mein Mann
und ich machten uns auf den Weg ins Krankenhaus, wir wollten Jonathan selbst in
die Augen sehen.
Als wir
dort ankamen schlief er wieder. Aber einige Elektroden waren entfernt worden
und die Schwestern sagten uns wenn wir auf den ZVK aufpassten könnten wir ihn
ruhig auf den Arm nehmen und wecken. Jetzt hielt mich nichts mehr! Ich habe ihn
hochgenommen, er war in Decken und Tücher gewickelt und nackt bis auf die
Windel. Endlich durfte ich mein Baby wieder in den Armen halten und seine Wärme
spüren.
Ich habe
ganz leise mit ihm geredet und seinen Namen gesagt um ihn zu wecken. Er schlug
die Augen auf und…sah mich genauso aufmerksam und wach an wie immer! Das war
derselbe Blick aus seinen grau-blauen Augen wie immer!! Mir kamen die Tränen,
ich war SO erleichtert!!
Nicht nur
das uns Zeit mit ihm geschenkt worden war – uns war Zeit mit demselben Kind
geschenkt worden wie vorher. Offensichtlich hatte sein Gehirn keinen weiteren Schaden
genommen…(das teilte uns an diesem Tag dann auch ein Arzt mit: die Auswertung
des EEG habe ergeben das die Krampfanfälle keine weiteren Schädigungen
ausgelöst hätten.)
Allerdings
war Jonathan müde und erledigt, das sah man ihm an. Er konnte die Augen nur
wenige Minuten offen halten und schlief dann direkt wieder ein.
Ich war
glücklich und unendlich erleichtert. Während ich dort saß und mein schlafendes
Baby in den Armen hielt habe ich mir geschworen alles klaglos anzunehmen was
mich mit Jonathan erwartet…denn ich hatte gespürt wie groß meine Angst war ihn
zu verlieren…
Wie
versprochen kam der Chirurg vorbei und erkundigte sich nach uns. Ich denke auch
er war erleichtert uns so glücklich und zuversichtlich vorzufinden. Dass er
sein Versprechen hielt und sich die Zeit nahm nach uns zu sehen hat mir
wirklich sehr viel bedeutet!!
Es war Nachmittag
geworden auf der Intensivstation der Kinderklinik. Wir hatten Jonathan beide
gekuschelt, wir hatten ihm zu essen gegeben, wir hatten beide gesehen das der
Blick aus seinen Augen derselbe war wie vorher. Er hatte keinen weiteren
Krampfanfall mehr gehabt, seine Werte waren alle stabil. Die Auswertung der
Blutuntersuchung lag vor: Jonathan hatte tatsächlich eine sehr starke
Impfreaktion. Im Klartext gesagt: er hatte Masern, Röteln und Windpocken…und
zwar alles gleichzeitig!!
Die Frage
die wir uns seit damals immer wieder stellen: kam der Krampfanfall von seinem
fehlgebildeten Gehirn??? Oder war er eine Reaktion auf die Impfung??? Laut
Aussage unseres Kinderarztes tritt ein (Fieber-)Krampf nach dieser Impfung nur im
Verhältnis 0,7 zu 1000 auf – das heißt, noch nicht einmal 1 von 1000 geimpften
Kindern durchlebt das. Aber wir??? Die Krankheit selbst war schon so selten,
sollten wir dann auch noch zu dem verschwindend geringen Kreis der Personen
gehören die als Reaktion krampften??? Wir wissen bis heute nicht was der
Auslöser war…
Aber: mittlerweile
war der Ausschlag rückläufig, auch Fieber hatte Jonathan nicht mehr. Nun
stellte sich die Frage: wie lange müssen wir noch hierbleiben??? Denn dieser
Tag…war der Tag vor Jonathans erstem Geburtstag.