Freitag, 25. August 2017

Wir kamen in der Kinderklinik an (mein Mann war mit dem Auto direkt hinter dem Krankenwagen geblieben und deswegen zeitgleich vor Ort) und wurden sofort in einen Behandlungsraum gebracht. Die Ärztin die Dienst hatte kannte uns schon aus unseren Klinikzeiten, außerdem hatte sich schon herum gesprochen dass wir auf dem Weg waren und so kamen noch zwei Schwestern der Neonatologie vorbei um nach uns zu sehen. Das war wirklich sehr sehr schön und wichtig für mich! Ich fühlte mich mit bekannten Menschen um mich herum gleich viel ruhiger.

Mein Mann kümmerte sich um Jonathan, zog ihn aus und half der Schwester die Dioden und das Gerät zur Messung der Sauerstoffsättigung an ihm zu befestigen. Ich konnte Jonathan nicht anfassen, und auch nicht wirklich ansehen: er hing wie ein kleiner Sack in den Armen meines Mannes – komplett schlaff…die Augen halb offen und verdreht. Dabei gab er leise fiepende Geräusche von sich, als wolle er weinen und es ginge nicht…er sah einfach…geistig schwerstbehindert aus! Und nicht mehr wie mein Sohn der mich wach und neugierig betrachtete. Ich konnte es nicht ertragen ihn so zu sehen…vor allem nicht mit dem Hintergedanken das das Gehirn am Ende Schaden genommen haben und der Zustand dauerhaft so bleiben könnte! 

Ich konnte das Weinen nicht mehr unterdrücken…und ließ einfach los…die Ärztin und die Schwestern kannte ich schon, und es waren nicht die ersten Tränen die ich in dieser Klinik vergoss, also…

Diese Eindrücke und Bilder…bekomme ich bis heute nicht aus meinem Kopf..und bis heute habe ich Angst davor dass das wieder passieren könnte, diese Panik hat sich so in meinem Kopf manifestiert: ich kann bei Hitze nicht mit Jonathan Auto fahren aus Angst das er krampfen könnte…ich kann ihn nicht mit Blitzlicht fotografieren lassen aus Angst das das einen Krampf auslösen könnte…ich kann es nicht ertragen wenn er hysterisch schreit, am Ende bekommt er dann einen Krampf?? Ja: alles das hat dieser eine Abend ausgelöst.

Ich saß der Ärztin gegenüber, weinte und versuchte trotzdem ihre Fragen so genau wie möglich zu beantworten: was hatten wir gemacht als Jonathan anfing zu krampfen? Wie sah der Krampf aus? Wie lange hatte er gedauert?


Das war alles so irreal! War ich wirklich wieder hier? Ging es meinem Kind wirklich schlecht oder würde ich gleich aufwachen und alles war gut und wir zu Hause??

Es war real und man wollte Jonathan über Nacht hier behalten und überwachen. Ich habe meinem Mann gesagt dass ich nicht bleiben kann. Ich konnte Jonathan momentan kaum ansehen, wie sollte ich mich da um ihn kümmern??? Weil ich schon zu Hause gespürt hatte das diese Gefühle in mir waren hatte ich Kleidung für meinen Mann eingepackt – und nicht für mich….Und wieder einmal war es gut das mein Mann so ruhig und gelassen ist: ihm machte es überhaupt nichts aus bei unserem Kleinen zu bleiben. Jonathan war sein Sohn und der brauchte ihn nun – also kümmerte sich mein Mann um ihn. Ohne eine Träne zu vergießen oder zu jammern…

Ich habe die beiden noch auf die Station begleitet und Jonathan einen Kuss  gegeben, dann bin ich gefahren…irgendwie erleichtert das ich diese Mauern der Klinik hinter mir lassen konnte…andererseits auch wie in Trance weil ich nicht fassen konnte das wir schon wieder mit dem Kleinen stationär in der Klinik waren!

Von der Fahrt nach Hause habe ich irgendwie nicht viel mitbekommen. Meine Gedanken schweiften ab…die Eindrücke dieses Abends, das Unverständnis über das was heute passiert war…die Angst wie Marvin das verkraften würde…die Angst ob Jonathan Schaden genommen hatte. Es war sehr viel was auf mich einstürzte….

Zu Hause wartete mein Papa schon ungeduldig auf mich und Neuigkeiten. Ich konnte ihm sagen dass der Krampf vorbei war, dass Jonathan soweit stabil sei. Aber ich musste ihm auch erklären das uns niemand sagen könne ob sein Gehirn Schaden genommen habe – ob er aufwachen würde…und wenn er aufwachte: ob er dann derselbe war wie noch heute Nachmittag. Immerhin: er lebte..und war nun in den besten Händen.
Marvin hatte am nächsten Tag Schule und deswegen nicht auf mich warten dürfen. Doch mein Papa erzählte mir das Marvin sehr mitgenommen gewesen sei, er habe große Angst um seinen Bruder ausgestanden…Angst das sein Bruder sterben könne – wie Marvins Papa ein paar Jahre zuvor.

Deswegen bin ich zu Marvin gegangen, habe ihn geweckt und ihm gesagt das alles gut sei und Jonathan am Leben. Danach konnte mein Großer gut und ruhig schlafen…

Im Gegensatz zu mir..zuerst musste ich das Wohnzimmer aufräumen: die Verpackungen und Materialien die der Notarzt benutzt hatte lagen noch herum…die ganze Situation wurde real für mich, ich hatte die Bilder von vorhin wieder im Kopf…

…ganz ehrlich? Ich habe mir erst mal einen doppelten Whiskey genehmigt und bin dann ins Bett gegangen…aber ich war unruhig…träumte schlecht in dieser Nacht und bin früh aufgestanden weil es nichts mehr gebracht hätte sich weiter im Bett hin und her zu drehen, ich fand ja doch keine Ruhe.

Ich habe Marvin Schulbrote gemacht und als er aufgestanden war habe ich ihm gesagt dass er nach der Schule zu seinen Großeltern ginge weil ich in die Klinik fahren würde.

Als ich grade losfahren wollte Richtung Klinik bekam ich eine SMS von meinem Mann: „Er krampft schon wieder.“ Ich habe auf´s Handy gestarrt und konnte die Worte trotzdem nicht richtig sehen. Habe geantwortet dass ich losfahre, aber im Berufsverkehr sicherlich zwischen 45 und 60 Minuten für den Weg benötigen würde.

Ich war wie in Trance. Und hoffe das niemals ein Polizist diesen Blog liest, denn ich habe während der Fahrt einige SMSen meines Mannes gelesen: „Die Ärzte bringen Jonathan jetzt auf die Intensivstation.“ ..und: „Er krampft immer noch.“……“er krampft jetzt seit fast 45 Minuten“….“Ich wurde aus dem Zimmer geschickt, der Klinikleiter ist bei ihm.“…

Während der Fahrt dachte ich wirklich dass ich mein Kind nicht mehr lebend sehen würde, dass der Kuss am Abend davor der letzte gewesen sei. Diese Fahrt in die Kinderklinik war die Hölle und es kam mir vor als würde ich mit meinem Auto überhaupt nicht vorwärts kommen…

Doch irgendwann war ich da und bin auf die Intensivstation gegangen. Mein Mann war immer noch im Wartezimmer und hatte keine neuen Informationen. Es war eine schreckliche Situation!! Dort zu sitzen, und nicht zu wissen was los war – ob Jonathan überhaupt noch lebte??

Unsere Gedanken standen im Raum und deswegen…so furchtbar das auch ist!...haben mein Mann und ich uns in dieser Situation darüber unterhalten wie weit wir überhaupt gehen wollen: welche Maßnahmen dürfen die Ärzte ergreifen und wo ist für uns der Punkt gekommen Jonathan gehen zu lassen?? Er hat einen lebensverkürzenden Gendefekt, wann sind Maßnahmen zur Wiederbelebung nicht mehr angemessen???

Ich denke kaum jemand kann nachvollziehen wie es sich anfühlt nur wenige Meter von seinem Kind entfernt darüber zu reden wann und wie man es sterben lassen will. Aber dieses Gespräch war notwendig und wir HABEN es geführt. Doch welche Entscheidung wir getroffen haben – bleibt bei uns, das ist zu persönlich um es zu teilen.

Die Minuten dehnten sich und fühlten sich an wie Stunden. Mein Mann ging mehrfach zu den Schwestern und fragte ob es etwas Neues gäbe, doch er bekam immer nur die Antwort dass die Ärzte noch bei Jonathan seien und man uns informieren werde sobald es etwas Neues gab.

Diese Zeit der Ungewissheit und der Angst hat sich so in mein Gehirn eingebrannt das ich heute noch das Muster auf der Tapete und jeden Fleck darauf aufmalen könnte. Ich dachte wirklich dass ich mein Kind nicht mehr lebend sehen würde…

Doch dann…teilte man uns mit das wir nun zu Jonathan könnten, er sei stabil. Er hatte einen GRAND MALE ANFALL und der Klinikleiter hatte ihm einen ZVK (einen Zentralen Venenkatheter) über den Hals ins Herz legen müssen um ihm Medikamente zu geben.

Er lebte!!! Ich konnte es nicht glauben!! Allerdings konnte uns nun erst recht niemand sagen ob sein Gehirn Schaden genommen hatte…der Anfall hatte SEHR LANGE gedauert. Man würde mehr wissen wenn Jonathan aufwache…

Wir durften zu ihm: da lag er…so klein und total verkabelt in seinem Bettchen. Hochheben und ihn im Arm halten war nicht möglich wegen des ZVK, wir mussten uns damit begnügen seine Hände festzuhalten oder ihn zu streicheln. Die Schwestern sagten uns das er noch einige Stunden schlafen würde, das Medikament das man ihm zur Krampflösung gegeben habe sei wirklich sehr stark.

Also beschlossen mein Mann und ich uns nach dem Schreck in der Kantine des Krankenhauses zu stärken und auch mal kurz durchzuatmen um den Schreck zu verdauen.

Auf dem Stationsflur begegneten wir dem Chirurgen der Jonathans Hodenhochstand festgestellt hatte. Ich grüßte und wollte weitergehen, doch er hielt mich auf und sagte dass er zu uns wolle. Er hätte auf der Belegungsliste gelesen dass wir da seien und wollte sich mal erkundigen wie es Jonathan gehe.

Das hat mich SCHWER beeindruckt!! Als Chirurg war er bei einem Krampfanfall mit Sicherheit NICHT zuständig, das heißt dass sein Interesse wirklich unserem Sohn galt. In diesem Moment habe ich ihm mein Herz geschenkt! Und es bis heute nicht bereut. Er ist ein ganz toller Mensch und ein wundervoller Arzt. Wenn man ihn kennt ist er weder kühl noch kurz angebunden – eher im Gegenteil! Er ist einer der warmherzigsten Ärzte die wir kennen und hat ein EHRLICHES Interesse an unserem Sohn. Ich bin sehr froh dass wir ihn kennengelernt haben!! Und gestehe an dieser Stelle reuevoll ein dass mich mein erster Eindruck SEHR getäuscht hat!!

Wir haben also kurz mit diesem Arzt geredet und ihm alles erzählt, ihm auch unsere Ängste darüber mitgeteilt das Jonathan einen bleibenden Hirnschaden davon getragen haben könnte. Er versprach am nächsten Tag erneut bei uns vorbeizukommen und nach uns zu sehen.

Mein Mann und ich machten eine Pause, aßen und tranken etwas und gingen danach wieder auf die Station -  Jonathan schlief.

Zwei Damen der Neurologie kamen vorbei um ein EEG zu machen. Sie „verkabelten“ Jonathan und begannen die Auswertung. Leider durften sie keine Aussagen zu den Ergebnissen treffen, „das würde dann ein Arzt mit Ihnen besprechen“. Furchtbar wenn man als Eltern so im Ungewissen gelassen wird!!! In so einer beängstigenden Situation will man alles – aber nicht noch WARTEN auf neue Befunde!!

Immerhin konnte ich Hirnströme auf dem EEG sehen, das hieß das Hirnaktivität vorhanden war und das war doch schon mal eine Erleichterung!

Es wurde Nachmittag: Jonathan schlief immer noch und wir konnten hier momentan nichts weiter für ihn tun, also beschlossen wir nach Hause zu fahren und mit Marvin zu grillen. Für ihn war es auch ein Schock gewesen als Jonathan so unverhofft in die Klinik gekommen war und wir wollten Zeit mit ihm verbringen.

Mit den Schwestern haben wir vereinbart das sie sofort anrufen würden wenn Jonathan aufwache: einer von uns würde dann in die Klinik zurückkommen. Wir wollten Jonathan in die Augen sehen um zu beurteilen ob er noch genauso war wie vorher – oder eben nicht. Denn das war etwas das uns große Sorgen und Angst machte. Ich hatte mich ja mittlerweile mit der Tatsache arrangiert das ich ein behindertes Kind habe – aber ein geistig SCHWERST behindertes Kind…das war weiterhin eine Horrorvorstellung für mich und ich wollte so schnell als möglich wissen woran ich war.

Wir fuhren heim und grillten mit Marvin. Aber ich war mit meinen Gedanken woanders: wie ging es Jonathan? War er wach? Warum riefen die Schwestern nicht an? Schlief er etwa immer noch??

Nach dem Essen meinte mein Mann das ich doch in der Klinik anrufen und nachfragen solle, sonst hätte ich sowieso keine Ruhe. Also habe ich das gemacht. Und die Antwort bekommen das Jonathan immer noch schlafe. Ich war entsetzt: er schlief immer noch? Seit heute MORGEN? War das normal oder ein Zeichen für einen Hirnschaden?? War es ein Koma? Würde er überhaupt jemals wieder aufwachen???

Und dann hatte ich einen Nervenzusammenbruch. Glaube ich. Ich habe geweint, gebrüllt und geschrien: „Ich will das er bei mir ist. Ich will mein Baby. MEIN BABY!! SOFORT!“ Habe mich auf dem Boden zusammen gekrümmt…konnte nicht aufhören zu heulen und zu schreien. Es war einfach alles zu viel in diesem Moment. Die Anspannung und die Belastung brach sich Bahn.

Mein Mann hat mich ins Bett gebracht und mir eine Schlaftablette gegeben so dass ich wenigstens etwas Ruhe finden konnte.

Am nächsten Morgen ging es mir besser. Wir haben in der Klinik angerufen und man teilte uns mit das Jonathan eben ganz kurz wach gewesen sei und ein wenig Milch getrunken habe. Das war doch schon mal ein gutes Zeichen!!!

Mein Mann und ich machten uns auf den Weg ins Krankenhaus, wir wollten Jonathan selbst in die Augen sehen.

Als wir dort ankamen schlief er wieder. Aber einige Elektroden waren entfernt worden und die Schwestern sagten uns wenn wir auf den ZVK aufpassten könnten wir ihn ruhig auf den Arm nehmen und wecken. Jetzt hielt mich nichts mehr! Ich habe ihn hochgenommen, er war in Decken und Tücher gewickelt und nackt bis auf die Windel. Endlich durfte ich mein Baby wieder in den Armen halten und seine Wärme spüren.

Ich habe ganz leise mit ihm geredet und seinen Namen gesagt um ihn zu wecken. Er schlug die Augen auf und…sah mich genauso aufmerksam und wach an wie immer! Das war derselbe Blick aus seinen grau-blauen Augen wie immer!! Mir kamen die Tränen, ich war SO erleichtert!!

Nicht nur das uns Zeit mit ihm geschenkt worden war – uns war Zeit mit demselben Kind geschenkt worden wie vorher. Offensichtlich hatte sein Gehirn keinen weiteren Schaden genommen…(das teilte uns an diesem Tag dann auch ein Arzt mit: die Auswertung des EEG habe ergeben das die Krampfanfälle keine weiteren Schädigungen ausgelöst hätten.)

Allerdings war Jonathan müde und erledigt, das sah man ihm an. Er konnte die Augen nur wenige Minuten offen halten und schlief dann direkt wieder ein.

Ich war glücklich und unendlich erleichtert. Während ich dort saß und mein schlafendes Baby in den Armen hielt habe ich mir geschworen alles klaglos anzunehmen was mich mit Jonathan erwartet…denn ich hatte gespürt wie groß meine Angst war ihn zu verlieren…

Wie versprochen kam der Chirurg vorbei und erkundigte sich nach uns. Ich denke auch er war erleichtert uns so glücklich und zuversichtlich vorzufinden. Dass er sein Versprechen hielt und sich die Zeit nahm nach uns zu sehen hat mir wirklich sehr viel bedeutet!!

Es war Nachmittag geworden auf der Intensivstation der Kinderklinik. Wir hatten Jonathan beide gekuschelt, wir hatten ihm zu essen gegeben, wir hatten beide gesehen das der Blick aus seinen Augen derselbe war wie vorher. Er hatte keinen weiteren Krampfanfall mehr gehabt, seine Werte waren alle stabil. Die Auswertung der Blutuntersuchung lag vor: Jonathan hatte tatsächlich eine sehr starke Impfreaktion. Im Klartext gesagt: er hatte Masern, Röteln und Windpocken…und zwar alles gleichzeitig!!

Die Frage die wir uns seit damals immer wieder stellen: kam der Krampfanfall von seinem fehlgebildeten Gehirn??? Oder war er eine Reaktion auf die Impfung??? Laut Aussage unseres Kinderarztes tritt ein      (Fieber-)Krampf nach dieser Impfung nur im Verhältnis 0,7 zu 1000 auf – das heißt, noch nicht einmal 1 von 1000 geimpften Kindern durchlebt das. Aber wir??? Die Krankheit selbst war schon so selten, sollten wir dann auch noch zu dem verschwindend geringen Kreis der Personen gehören die als Reaktion krampften??? Wir wissen bis heute nicht was der Auslöser war…

Aber: mittlerweile war der Ausschlag rückläufig, auch Fieber hatte Jonathan nicht mehr. Nun stellte sich die Frage: wie lange müssen wir noch hierbleiben??? Denn dieser Tag…war der Tag vor Jonathans erstem Geburtstag.