Bevor wir
mit den zuständigen Stationsärzten die Frage nach der Entlassung klären konnten
kam ein Arzt zu uns der sich als Jonathans behandelnder Neurologe vorstellte.
…als
riesiger GREYS ANATOMY FAN hatte ich direkt ein Bild vor Augen und das habe ich
auch kundgetan: „Aaaaa, wie Dr. Derek Sheppard!“ Worauf unser Arzt mir
mitteilte dass er kein Neurochirurg sei, sondern „nur“ Neurologe und auch nicht
so gut aussähe. Da musste ich das erste Mal herzhaft über ihn lachen!
Dieser
Arzt sieht vielleicht nicht so aus wie der Schauspieler von Dr. Sheppard, aber
er hat eine Ausstrahlung und einen Humor die einfach ganz GROSSE KLASSE sind!
Mein Mann und ich mögen ihn unheimlich gern weil er die Wahrheit sagt,
schonungslos und grade heraus: genau das, was wir an Ärzten mögen und schätzen.
Der Arzt
hat mit uns besprochen das Jonathan ab sofort ein weiteres Medikament benötigen
würde um zukünftigen Krampfanfällen vorzubeugen: Cepra, zweimal am Tag. Bei
zunehmendem Gewicht müssten wir auch immer die Dosierung des Medikaments
anpassen.
Der Arzt
teilte uns seine Vermutung mit, dass die Krampfanfälle ausgelöst würden durch die
Hirnfehlbildungen - und die seien einfach vorhanden und gingen ja nicht mehr
weg. Leider ist in so einem Fall das Medikament nicht in der Lage die Anfälle
komplett zu unterbinden, also müssten wir trotz des Medikaments auch zukünftig
mit Krämpfen rechnen. Und deswegen bekämen wir auch noch ein Notfallmedikament
das wir Jonathan unverzüglich verabreichen müssten sollte ein neuer Krampf auftreten.
Dieses
Medikament wird mittels einer Spritze und eines speziellen Aufsatzes in die
Nase gespritzt. Wir tragen es seit diesem Tag in einem kleinen Döschen IMMER
UND ÜBERALL mit uns herum – haben es aber noch nie gebraucht. (Dreimal auf Holz
geklopft!) Jonathan hatte seit damals keine weiteren Krampfanfälle und ich bin
sehr dankbar dafür, denn schön war es nicht.
Doch das
wussten wir an diesem Tag noch nicht, also haben wir ganz genau hingeschaut wie
das mit dem Medikament funktionieren soll und haben das Aufziehen der Spritze
geübt – und dabei lauter Kochsalzlösung durchs Krankenzimmer gespritzt! Woran
unser Neurologe MINDESTENS so viel Spaß hatte wie wir. Es hat wirklich richtig
Spaß gemacht nach diesen Tagen mal wieder herzhaft zu lachen!!!
Um sicher
zu sein das wir es auch wirklich konnten haben mein Mann und ich zum Schluss
noch einmal jeden einzelnen Schritt der Gabe des Notfallmedikaments langsam
ausgeführt und dabei erläutert was wir tun. Ich gebe das Gespräch mal kurz
wieder:
„Ich
packe die Spritze aus.“
„EEEEEEXAKT!“
„Ich zerbreche
die Ampulle.“
„EEEEEEXAKT!“
„Ich
stecke die Nadel auf die Spritze um das Medikament aufzuziehen.“
„EEEEEEXAKT!“
…ich
denke Sie ahnen wie das Gespräch weitergeht. 8o) Wir LIEBEN dieses EEEEEXAKT
und es ist ein „running gag“ in unserer Familie geworden und wird bei jeder
passenden und unpassenden Gelegenheit angewendet. Eine SCHÖNE ERINNERUNG an
unsere Erlebnisse im Krankenhaus, und davon gibt es weiß Gott nicht viele!
Der
Nachmittag wurde zum Abend und auch an diesem Tag ist mein Mann bei Jonathan in
der Klinik geblieben. Zum Glück war die Intensivstation nicht so stark belegt
in diesen Tagen, wir hatten einen Raum für uns allein und die Schwestern haben
meinem Mann ein Klappbett neben Jonathans Bett gestellt.
Normalerweise
ist es nicht üblich das Eltern auf der Intensivstation übernachten: die
Überwachung durch das Personal ist dort so engmaschig das eine Betreuung durch
einen Elternteil nicht notwendig ist. Aber man kam uns entgegen und wir sind
sehr dankbar dafür: so musste Jonathan nicht komplett allein in einer fremden
Umgebung sein die ihn unter Umständen auch ängstigte.
Zum Thema
Entlassung…man war sich unschlüssig ob man uns nach Hause gehen lassen konnte.
Zwar hatte Jonathan keine weiteren Krampfanfälle gehabt und sein Fieber wegen
der Impfreaktion war auch abgeklungen. Aber er trank noch sehr wenig, wurde
dabei immer wieder müde und schlief ein. Die Ärzte waren sich zwar bewusst das
dieses Verhalten eine ganz normale Reaktion auf die starken Medikamente war,
die Jonathan zur Krampflösung bekommen hatte – aber sie sagten das trotzdem das
Risiko einer Unterzuckerung bestand wenn er zu wenig aß. Und DAS könnten wir zu
Hause nicht kontrollieren: wohl aber im Krankenhaus. Und dort wäre man auch in
der Lage ihm zur Not wieder eine Sonde zu legen und ihn darüber zu ernähren.
(Das war für mich allerdings nicht wirklich ein Grund in der Klinik zu bleiben:
denn Sonden legen konnten WIR ja auch!)
Wir
vereinbarten also mit den Schwestern das ich am nächsten Morgen bevor ich
Richtung Klinik aufbrechen würde, anrufen solle: dann könne man mir sagen ob
Jonathan entlassen werde oder noch bleiben müsse. Im letzteren Fall würde ich
dann seine Geschenke und seine Geburtstagstorte mit in die Klinik bringen.
Ich
hoffte aber sehr dass es nicht dazu kommen würde denn die Torte hatte eine
Tante meines Mannes, eine selbstständige Konditormeisterin, gebacken und sie
war mit Marzipan überzogen und dekoriert mit WinniePooh-Figuren. Eine
wunderschöne Torte mit der wir diesen für uns so wichtigen Tag abrunden wollten
– aber eben auch eine Torte die sich nicht gut transportieren ließ ohne das die
Figuren um- oder abfielen oder das Marzipan flüssig wurde…
Am
Geburtstagsmorgen rief ich mit klopfendem Herzen in der Klinik an: ich wollte
hören das ich meine Männer gleich abholen kommen dürfte. Doch leider teilte man
mir mit das noch keine Entscheidung getroffen worden sei, die Visite käme am
späten Vormittag und ich sollte doch lieber alles mitbringen.
Mit
Tränen in den Augen habe ich dann die Geschenke (einen Autotransporter von den
TutTut-Babyflitzern sowie einen Marienkäfer von Playmobil 1-2-3 den Marvin
seinem Bruder schenken wollte) und die Torte eingepackt und bin losgefahren.
Wenigstens hatte man uns zugestanden das Marvin mitkommen durfte: WENN er sich
vor dem Betreten der Station komplett untersuchen ließe und wir seinen
Impfausweis mitbringen würden. Ich danke an der Stelle den Ärzten und
Schwestern der Intensivstation für Ihre Großzügigkeit. Mir ist bewusst dass es
nur möglich war weil wir ein Einzelzimmer hatten mit direktem Zugang zum Flur,
so dass Marvin die Station nicht betreten musste. Trotzdem: vielen Dank das wir
wenigstens zusammen sein konnten an diesem Tag!!
Nachdem
Marvin dann untersucht und für komplett gesund befunden wurde durften wir zu
Jonathan. Er lag in den Armen meines Mannes und war so schlapp und müde…es war
furchtbar!! Hatte ich mich doch so lange auf diesen besonderen Tag gefreut weil
ich die Klinikzeiten vergessen wollte und nun waren wir GENAU HIER wo alles
angefangen hatte. Wieder die Maschinen und Geräusche und Gerüche…GANZ
FURCHTBAR, mir war der Hals so eng!!! Marvin und ich haben versucht Jonathan
ein wenig zu knuddeln und ihn zu küssen, doch immer noch hingen Elektroden an
ihm und er hatte immer noch den ZVK, deswegen gestaltete sich das alles sehr
schwierig.
Geschenke
auspacken….wir haben es versucht. Doch Jonathan war viel zu schwach und hat die
Sachen auch nur lustlos betrachtet. Dabei hatten wir uns diesen Moment so oft
vorgestellt und in den schönsten Farben ausgemalt…nun war alles anders und
nicht schön. Ich wurde von Minute zu Minute trauriger.
Irgendwann
habe ich Jonathan dann gehalten und ihn angesehen. Mir kamen die Tränen: es war
wie eine Dauerschleife in meinem Kopf „heute ist sein 1.Geburtstag und er ist
wieder im Krankenhaus“…“Der Tag ist nicht so wie wir ihn gestalten wollten und
diesen Tag kann man auch nicht mehr zurückholen“..
Genau in
dem Moment als ich merkte dass ich gleich das Schluchzen nicht mehr würde
unterdrücken können – kam die Visite. Ich weiß gar nicht mehr genau wer alles
dabei war, ich weiß nur noch das der Klinikleiter der Kinderklinik dabei war
und er mich fragte wie es Jonathan und mir ginge. Oje…das war der falsche
Moment für so eine Frage!! Ich fing an lauthals zu weinen und habe ihm gesagt
dass Jonathan heute Geburtstag hat und ich mir diesen Tag ganz anders
vorgestellt hatte! Das wir eigentlich heute einen Ausflug in den Zoo machen
wollten um mit der langen Zeit in der Klinik abzuschließen, um nach vorne zu
blicken und zu vergessen was alles gewesen ist – und nun seien wir ausgerechnet
wieder HIER!! ..außerdem habe ich ihm gesagt das ich zwei Tage zuvor einen
Zusammenbruch hatte und keine Ahnung hätte wie ich es in diesen vier Wänden nun
WIEDER aushalten sollte, ich hätte einfach keine Kraft mehr für den
Klinikalltag.
Dann habe
ich Luft geholt und ….mich richtig geschämt. Dieser Ausbruch von Worten und
Tränen war mir so peinlich! Wusste ich doch das die Ärzte, und grade der
Klinikleiter, so viel für uns getan hatten und uns hier so gut betreuten. Und
ich konnte nur „meckern“. Aber es war geschehen: das alles war einfach aus mir
rausgebrochen. Ich wischte mir also energisch die Tränen ab, sah ihn an und
hoffte dass er nicht sauer war.
War er
nicht…überhaupt nicht! Er hat mich angesehen und mir gesagt dass er mich SO GUT
verstehen und total nachempfinden kann was ich fühle! Schließlich kannten wir
uns schon seit Beginn unserer Klinikzeit und er wusste wie anstrengend die
Monate auf der Neonatologie für uns gewesen waren.
Und dann
sagte er: „Na, dann packen Sie mal alles zusammen und fahren Sie mit Ihrem
Geburtstagskind heim! Einen Ausflug können Sie heute vielleicht nicht machen,
aber wenigstens ein paar Stunden zu Hause feiern und gemeinsam Kuchen
essen!“…Ich blickte ihn sprachlos an und…heulte los. Schon wieder!! Meine Güte,
ich kam mir vor wie eine Heulboje!! Schlimm! Denn normalerweise habe ich NICHT
so nah am Wasser gebaut. Ich habe dann noch zweimal nachgefragt ob er das ernst
meint oder mich veräppeln will, aber er sagte dass er es genauso meint. Die
Ärzte könnten jetzt auch nicht mehr tun als wir zu Hause und wenn ein neuer
Krampfanfall kommen sollte, dann müssten wir eben wieder den Notarzt rufen.
Also
haben wir alles zusammen gepackt: aber nicht ohne den Schwestern und Ärzten
noch ein paar Stücke Kuchen da zu lassen. 8O))
Zuhause
angekommen haben wir uns erstmal alle zusammen an den Tisch gesetzt und Kuchen
gegessen, auch Jonathan hat ein wenig Schokoladencreme bekommen. Allerdings
hing er wie ein kleiner nasser Sack auf meinem Schoß und ich habe ein wenig
Bedenken bekommen ob es das Richtige war ihn mit nach Hause zu nehmen. Hatten
wir das nur aus Egoismus getan diesen Tag mit ihm feiern zu wollen und dabei
vielleicht zu wenig an ihn und sein Wohlergehen gedacht? Wäre es nicht doch
besser gewesen ihn noch in der Klinik überwachen zu lassen?
Aber
einige Stunden später wurde ich eines Besseren belehrt: Jonathan aß mit einem
Appetit der sagenhaft war! Die Sorge der Ärzte dass er nicht genug essen könnte
war also unbegründet.
Heute
wissen wir das es die sogenannte HOSPITALISIERUNG gibt: Jonathan hat ein Trauma
durch den langen Klinikaufenthalt zurückbehalten. Und mag er auch behindert
sein und deswegen seine Umwelt vielleicht nicht so wahrnehmen wie andere
Kinder, so versteht er sehr wohl wenn er sich in einem Krankenhaus befindet.
Das mag er nicht, vielleicht macht es ihm Angst: vielleicht weiß oder ahnt er
das ihm hier immer wieder Schmerzen zugefügt werden. Aus diesen Gründen stellt
er die Nahrungsaufnahme ein. Und trinkt auch nicht. Kontraproduktiv wenn man
entlassen werden möchte und das Kind ein Verhalten zeigt als sei es nicht in
der Lage allein zu essen und zu trinken!!
Aber
jetzt waren wir erst mal zu Hause und haben den Geburtstag dann doch noch
IRGENDWIE gefeiert. Zwar nicht so wie wir uns das vorgestellt hatten, aber ein
ganz furchtbarer Tag war es am Ende dann auch nicht…
Irgendwann
wurde es aber Zeit für Jonathan ins Bett zu gehen, er war noch ganz schön
geschlaucht von den ganzen Medikamenten und der Aufregung. Tja…an der Stelle
muss ich mich nun als Glucke outen. Allein die Vorstellung das Jonathan in
seinem eigenen Bett liegen würde -und zwar in seinem eigenen Zimmer!- bescherte
mir Schweißausbrüche!! Was wäre wenn er wieder einen Krampfanfall hätte und wir
das nicht mitbekommen würden???
Ich
wollte ihn bei mir haben, ganz eng…also habe ich meinem Mann meine Ängste
gebeichtet und gesagt das ich Jonathan mit in unser Bett nehmen und die ganze
Nacht festhalten möchte – sonst würde ich wohl keine Ruhe finden.
Also
haben wir es genauso gemacht. Er ist im Arm meines Mannes eingeschlafen und
dort geblieben bis wir ins Bett gegangen sind. Dann habe ich ihn die komplette
Nacht im Arm gehalten, ganz eng an mich gedrückt.
Vielleicht
sagen jetzt einige „Erziehungsexperten“ dass dieses Vorgehen GANZ SCHLECHT
war…aber das ist mir egal!! Für mich war es in diesem Moment das Richtige, ich
habe dadurch die nötige Ruhe gefunden. Außerdem finde ich dass sich Eltern viel
mehr auf ihr Bauchgefühl und viel weniger auf Erziehungsratgeber verlassen
sollten!! Ist doch jeder Mensch ein Individuum mit eigenen Bedürfnissen – wie
soll EIN Buch alle diese einzigartigen Eigenschaften über einen Kamm scheren??
Ich
scheue mich jetzt auch nicht zu sagen das Jonathan noch für mehrere Wochen jede
Nacht in meinem Arm geschlafen hat bevor ich innerlich so weit war ihn ein
Stückchen loszulassen…dann hat er in der Mitte des Bettes gelegen…wieder eine
Weile später ist er in einen Stubenwagen in unserem Schlafzimmer umgezogen..und
sehr viel später auch zurück in sein eigenes Bett.
Diese
Zeit habe ich gebraucht um die Angst und die Eindrücke des Krampfanfalls zu
verarbeiten. Es war ein Gefühl von Sicherheit wenn ich ihn ganz eng an mir
gespürt habe weil ich mir eingebildet habe dann rechtzeitig mitzubekommen wenn
ihn ein erneuter Krampf ereilt.
Eigentlich
wollten wir uns ja nicht gegenseitig danken in diesem Blog, aber….trotzdem ein
großes Dankeschön an meinen Mann….er hat diese ganzen langen Wochen nie
gemeckert oder in Frage gestellt das Jonathan bei uns schläft…er hat nur immer
gemeint das ich mir Zeit nehmen soll, wenn es das ist was ich brauche – dann
sei es so…
DANKE
MANN! FÜR DEINE GEDULD… UND FÜR ALLES ANDERE: DU LIEBST JONATHAN UND HADERST
NIE MIT UNSEREM SCHICKSAL. DU UNTERSTÜTZT MICH BEI ALLEM WAS ICH MACHE – UND
OBWOHL DU MANCHE WEGE NICHT IN DERSELBEN FORM GEHEN WÜRDEST SAGST DU MIR DAS DU
STOLZ AUF MICH BIST.
ICH GLAUBE
ES GIBT NUR WENIGE MÄNNER DIE SO SIND WIE DU, UND ICH BIN FROH DAS WIR UNS
GEFUNDEN HABEN. ICH LIEBE DICH.