Freitag, 1. September 2017

Bevor wir mit den zuständigen Stationsärzten die Frage nach der Entlassung klären konnten kam ein Arzt zu uns der sich als Jonathans behandelnder Neurologe vorstellte.

…als riesiger GREYS ANATOMY FAN hatte ich direkt ein Bild vor Augen und das habe ich auch kundgetan: „Aaaaa, wie Dr. Derek Sheppard!“ Worauf unser Arzt mir mitteilte dass er kein Neurochirurg sei, sondern „nur“ Neurologe und auch nicht so gut aussähe. Da musste ich das erste Mal herzhaft über ihn lachen!

Dieser Arzt sieht vielleicht nicht so aus wie der Schauspieler von Dr. Sheppard, aber er hat eine Ausstrahlung und einen Humor die einfach ganz GROSSE KLASSE sind! Mein Mann und ich mögen ihn unheimlich gern weil er die Wahrheit sagt, schonungslos und grade heraus: genau das, was wir an Ärzten mögen und schätzen.

Der Arzt hat mit uns besprochen das Jonathan ab sofort ein weiteres Medikament benötigen würde um zukünftigen Krampfanfällen vorzubeugen: Cepra, zweimal am Tag. Bei zunehmendem Gewicht müssten wir auch immer die Dosierung des Medikaments anpassen.

Der Arzt teilte uns seine Vermutung mit, dass die Krampfanfälle ausgelöst würden durch die Hirnfehlbildungen - und die seien einfach vorhanden und gingen ja nicht mehr weg. Leider ist in so einem Fall das Medikament nicht in der Lage die Anfälle komplett zu unterbinden, also müssten wir trotz des Medikaments auch zukünftig mit Krämpfen rechnen. Und deswegen bekämen wir auch noch ein Notfallmedikament das wir Jonathan unverzüglich verabreichen müssten sollte ein neuer Krampf auftreten.

Dieses Medikament wird mittels einer Spritze und eines speziellen Aufsatzes in die Nase gespritzt. Wir tragen es seit diesem Tag in einem kleinen Döschen IMMER UND ÜBERALL mit uns herum – haben es aber noch nie gebraucht. (Dreimal auf Holz geklopft!) Jonathan hatte seit damals keine weiteren Krampfanfälle und ich bin sehr dankbar dafür, denn schön war es nicht.

Doch das wussten wir an diesem Tag noch nicht, also haben wir ganz genau hingeschaut wie das mit dem Medikament funktionieren soll und haben das Aufziehen der Spritze geübt – und dabei lauter Kochsalzlösung durchs Krankenzimmer gespritzt! Woran unser Neurologe MINDESTENS so viel Spaß hatte wie wir. Es hat wirklich richtig Spaß gemacht nach diesen Tagen mal wieder herzhaft zu lachen!!!

Um sicher zu sein das wir es auch wirklich konnten haben mein Mann und ich zum Schluss noch einmal jeden einzelnen Schritt der Gabe des Notfallmedikaments langsam ausgeführt und dabei erläutert was wir tun. Ich gebe das Gespräch mal kurz wieder:
„Ich packe die Spritze aus.“
„EEEEEEXAKT!“
„Ich zerbreche die Ampulle.“
„EEEEEEXAKT!“
„Ich stecke die Nadel auf die Spritze um das Medikament aufzuziehen.“
„EEEEEEXAKT!“

…ich denke Sie ahnen wie das Gespräch weitergeht. 8o) Wir LIEBEN dieses EEEEEXAKT und es ist ein „running gag“ in unserer Familie geworden und wird bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit angewendet. Eine SCHÖNE ERINNERUNG an unsere Erlebnisse im Krankenhaus, und davon gibt es weiß Gott nicht viele!

Der Nachmittag wurde zum Abend und auch an diesem Tag ist mein Mann bei Jonathan in der Klinik geblieben. Zum Glück war die Intensivstation nicht so stark belegt in diesen Tagen, wir hatten einen Raum für uns allein und die Schwestern haben meinem Mann ein Klappbett neben Jonathans Bett gestellt.

Normalerweise ist es nicht üblich das Eltern auf der Intensivstation übernachten: die Überwachung durch das Personal ist dort so engmaschig das eine Betreuung durch einen Elternteil nicht notwendig ist. Aber man kam uns entgegen und wir sind sehr dankbar dafür: so musste Jonathan nicht komplett allein in einer fremden Umgebung sein die ihn unter Umständen auch ängstigte.

Zum Thema Entlassung…man war sich unschlüssig ob man uns nach Hause gehen lassen konnte. Zwar hatte Jonathan keine weiteren Krampfanfälle gehabt und sein Fieber wegen der Impfreaktion war auch abgeklungen. Aber er trank noch sehr wenig, wurde dabei immer wieder müde und schlief ein. Die Ärzte waren sich zwar bewusst das dieses Verhalten eine ganz normale Reaktion auf die starken Medikamente war, die Jonathan zur Krampflösung bekommen hatte – aber sie sagten das trotzdem das Risiko einer Unterzuckerung bestand wenn er zu wenig aß. Und DAS könnten wir zu Hause nicht kontrollieren: wohl aber im Krankenhaus. Und dort wäre man auch in der Lage ihm zur Not wieder eine Sonde zu legen und ihn darüber zu ernähren. (Das war für mich allerdings nicht wirklich ein Grund in der Klinik zu bleiben: denn Sonden legen konnten WIR ja auch!)

Wir vereinbarten also mit den Schwestern das ich am nächsten Morgen bevor ich Richtung Klinik aufbrechen würde, anrufen solle: dann könne man mir sagen ob Jonathan entlassen werde oder noch bleiben müsse. Im letzteren Fall würde ich dann seine Geschenke und seine Geburtstagstorte mit in die Klinik bringen.

Ich hoffte aber sehr dass es nicht dazu kommen würde denn die Torte hatte eine Tante meines Mannes, eine selbstständige Konditormeisterin, gebacken und sie war mit Marzipan überzogen und dekoriert mit WinniePooh-Figuren. Eine wunderschöne Torte mit der wir diesen für uns so wichtigen Tag abrunden wollten – aber eben auch eine Torte die sich nicht gut transportieren ließ ohne das die Figuren um- oder abfielen oder das Marzipan flüssig wurde…

Am Geburtstagsmorgen rief ich mit klopfendem Herzen in der Klinik an: ich wollte hören das ich meine Männer gleich abholen kommen dürfte. Doch leider teilte man mir mit das noch keine Entscheidung getroffen worden sei, die Visite käme am späten Vormittag und ich sollte doch lieber alles mitbringen.

Mit Tränen in den Augen habe ich dann die Geschenke (einen Autotransporter von den TutTut-Babyflitzern sowie einen Marienkäfer von Playmobil 1-2-3 den Marvin seinem Bruder schenken wollte) und die Torte eingepackt und bin losgefahren. Wenigstens hatte man uns zugestanden das Marvin mitkommen durfte: WENN er sich vor dem Betreten der Station komplett untersuchen ließe und wir seinen Impfausweis mitbringen würden. Ich danke an der Stelle den Ärzten und Schwestern der Intensivstation für Ihre Großzügigkeit. Mir ist bewusst dass es nur möglich war weil wir ein Einzelzimmer hatten mit direktem Zugang zum Flur, so dass Marvin die Station nicht betreten musste. Trotzdem: vielen Dank das wir wenigstens zusammen sein konnten an diesem Tag!!

Nachdem Marvin dann untersucht und für komplett gesund befunden wurde durften wir zu Jonathan. Er lag in den Armen meines Mannes und war so schlapp und müde…es war furchtbar!! Hatte ich mich doch so lange auf diesen besonderen Tag gefreut weil ich die Klinikzeiten vergessen wollte und nun waren wir GENAU HIER wo alles angefangen hatte. Wieder die Maschinen und Geräusche und Gerüche…GANZ FURCHTBAR, mir war der Hals so eng!!! Marvin und ich haben versucht Jonathan ein wenig zu knuddeln und ihn zu küssen, doch immer noch hingen Elektroden an ihm und er hatte immer noch den ZVK, deswegen gestaltete sich das alles sehr schwierig.

Geschenke auspacken….wir haben es versucht. Doch Jonathan war viel zu schwach und hat die Sachen auch nur lustlos betrachtet. Dabei hatten wir uns diesen Moment so oft vorgestellt und in den schönsten Farben ausgemalt…nun war alles anders und nicht schön. Ich wurde von Minute zu Minute trauriger.

Irgendwann habe ich Jonathan dann gehalten und ihn angesehen. Mir kamen die Tränen: es war wie eine Dauerschleife in meinem Kopf „heute ist sein 1.Geburtstag und er ist wieder im Krankenhaus“…“Der Tag ist nicht so wie wir ihn gestalten wollten und diesen Tag kann man auch nicht mehr zurückholen“..

Genau in dem Moment als ich merkte dass ich gleich das Schluchzen nicht mehr würde unterdrücken können – kam die Visite. Ich weiß gar nicht mehr genau wer alles dabei war, ich weiß nur noch das der Klinikleiter der Kinderklinik dabei war und er mich fragte wie es Jonathan und mir ginge. Oje…das war der falsche Moment für so eine Frage!! Ich fing an lauthals zu weinen und habe ihm gesagt dass Jonathan heute Geburtstag hat und ich mir diesen Tag ganz anders vorgestellt hatte! Das wir eigentlich heute einen Ausflug in den Zoo machen wollten um mit der langen Zeit in der Klinik abzuschließen, um nach vorne zu blicken und zu vergessen was alles gewesen ist – und nun seien wir ausgerechnet wieder HIER!! ..außerdem habe ich ihm gesagt das ich zwei Tage zuvor einen Zusammenbruch hatte und keine Ahnung hätte wie ich es in diesen vier Wänden nun WIEDER aushalten sollte, ich hätte einfach keine Kraft mehr für den Klinikalltag.

Dann habe ich Luft geholt und ….mich richtig geschämt. Dieser Ausbruch von Worten und Tränen war mir so peinlich! Wusste ich doch das die Ärzte, und grade der Klinikleiter, so viel für uns getan hatten und uns hier so gut betreuten. Und ich konnte nur „meckern“. Aber es war geschehen: das alles war einfach aus mir rausgebrochen. Ich wischte mir also energisch die Tränen ab, sah ihn an und hoffte dass er nicht sauer war.

War er nicht…überhaupt nicht! Er hat mich angesehen und mir gesagt dass er mich SO GUT verstehen und total nachempfinden kann was ich fühle! Schließlich kannten wir uns schon seit Beginn unserer Klinikzeit und er wusste wie anstrengend die Monate auf der Neonatologie für uns gewesen waren.

Und dann sagte er: „Na, dann packen Sie mal alles zusammen und fahren Sie mit Ihrem Geburtstagskind heim! Einen Ausflug können Sie heute vielleicht nicht machen, aber wenigstens ein paar Stunden zu Hause feiern und gemeinsam Kuchen essen!“…Ich blickte ihn sprachlos an und…heulte los. Schon wieder!! Meine Güte, ich kam mir vor wie eine Heulboje!! Schlimm! Denn normalerweise habe ich NICHT so nah am Wasser gebaut. Ich habe dann noch zweimal nachgefragt ob er das ernst meint oder mich veräppeln will, aber er sagte dass er es genauso meint. Die Ärzte könnten jetzt auch nicht mehr tun als wir zu Hause und wenn ein neuer Krampfanfall kommen sollte, dann müssten wir eben wieder den Notarzt rufen.

Also haben wir alles zusammen gepackt: aber nicht ohne den Schwestern und Ärzten noch ein paar Stücke Kuchen da zu lassen. 8O))

Zuhause angekommen haben wir uns erstmal alle zusammen an den Tisch gesetzt und Kuchen gegessen, auch Jonathan hat ein wenig Schokoladencreme bekommen. Allerdings hing er wie ein kleiner nasser Sack auf meinem Schoß und ich habe ein wenig Bedenken bekommen ob es das Richtige war ihn mit nach Hause zu nehmen. Hatten wir das nur aus Egoismus getan diesen Tag mit ihm feiern zu wollen und dabei vielleicht zu wenig an ihn und sein Wohlergehen gedacht? Wäre es nicht doch besser gewesen ihn noch in der Klinik überwachen zu lassen?

Aber einige Stunden später wurde ich eines Besseren belehrt: Jonathan aß mit einem Appetit der sagenhaft war! Die Sorge der Ärzte dass er nicht genug essen könnte war also unbegründet.

Heute wissen wir das es die sogenannte HOSPITALISIERUNG gibt: Jonathan hat ein Trauma durch den langen Klinikaufenthalt zurückbehalten. Und mag er auch behindert sein und deswegen seine Umwelt vielleicht nicht so wahrnehmen wie andere Kinder, so versteht er sehr wohl wenn er sich in einem Krankenhaus befindet. Das mag er nicht, vielleicht macht es ihm Angst: vielleicht weiß oder ahnt er das ihm hier immer wieder Schmerzen zugefügt werden. Aus diesen Gründen stellt er die Nahrungsaufnahme ein. Und trinkt auch nicht. Kontraproduktiv wenn man entlassen werden möchte und das Kind ein Verhalten zeigt als sei es nicht in der Lage allein zu essen und zu trinken!!

Aber jetzt waren wir erst mal zu Hause und haben den Geburtstag dann doch noch IRGENDWIE gefeiert. Zwar nicht so wie wir uns das vorgestellt hatten, aber ein ganz furchtbarer Tag war es am Ende dann auch nicht…

Irgendwann wurde es aber Zeit für Jonathan ins Bett zu gehen, er war noch ganz schön geschlaucht von den ganzen Medikamenten und der Aufregung. Tja…an der Stelle muss ich mich nun als Glucke outen. Allein die Vorstellung das Jonathan in seinem eigenen Bett liegen würde -und zwar in seinem eigenen Zimmer!- bescherte mir Schweißausbrüche!! Was wäre wenn er wieder einen Krampfanfall hätte und wir das nicht mitbekommen würden???

Ich wollte ihn bei mir haben, ganz eng…also habe ich meinem Mann meine Ängste gebeichtet und gesagt das ich Jonathan mit in unser Bett nehmen und die ganze Nacht festhalten möchte – sonst würde ich wohl keine Ruhe finden.

Also haben wir es genauso gemacht. Er ist im Arm meines Mannes eingeschlafen und dort geblieben bis wir ins Bett gegangen sind. Dann habe ich ihn die komplette Nacht im Arm gehalten, ganz eng an mich gedrückt.

Vielleicht sagen jetzt einige „Erziehungsexperten“ dass dieses Vorgehen GANZ SCHLECHT war…aber das ist mir egal!! Für mich war es in diesem Moment das Richtige, ich habe dadurch die nötige Ruhe gefunden. Außerdem finde ich dass sich Eltern viel mehr auf ihr Bauchgefühl und viel weniger auf Erziehungsratgeber verlassen sollten!! Ist doch jeder Mensch ein Individuum mit eigenen Bedürfnissen – wie soll EIN Buch alle diese einzigartigen Eigenschaften über einen Kamm scheren??

Ich scheue mich jetzt auch nicht zu sagen das Jonathan noch für mehrere Wochen jede Nacht in meinem Arm geschlafen hat bevor ich innerlich so weit war ihn ein Stückchen loszulassen…dann hat er in der Mitte des Bettes gelegen…wieder eine Weile später ist er in einen Stubenwagen in unserem Schlafzimmer umgezogen..und sehr viel später auch zurück in sein eigenes Bett.

Diese Zeit habe ich gebraucht um die Angst und die Eindrücke des Krampfanfalls zu verarbeiten. Es war ein Gefühl von Sicherheit wenn ich ihn ganz eng an mir gespürt habe weil ich mir eingebildet habe dann rechtzeitig mitzubekommen wenn ihn ein erneuter Krampf ereilt.

Eigentlich wollten wir uns ja nicht gegenseitig danken in diesem Blog, aber….trotzdem ein großes Dankeschön an meinen Mann….er hat diese ganzen langen Wochen nie gemeckert oder in Frage gestellt das Jonathan bei uns schläft…er hat nur immer gemeint das ich mir Zeit nehmen soll, wenn es das ist was ich brauche – dann sei es so…
DANKE MANN! FÜR DEINE GEDULD… UND FÜR ALLES ANDERE: DU LIEBST JONATHAN UND HADERST NIE MIT UNSEREM SCHICKSAL. DU UNTERSTÜTZT MICH BEI ALLEM WAS ICH MACHE – UND OBWOHL DU MANCHE WEGE NICHT IN DERSELBEN FORM GEHEN WÜRDEST SAGST DU MIR DAS DU STOLZ AUF MICH BIST.
ICH GLAUBE ES GIBT NUR WENIGE MÄNNER DIE SO SIND WIE DU, UND ICH BIN FROH DAS WIR UNS GEFUNDEN HABEN. ICH LIEBE DICH.