Donnerstag, 21. September 2017

Nachdem wir uns auf Station eingerichtet hatten sollten wir zum Gespräch mit unseren Chirurgen gehen. Ja: CHIRURGEN, Mehrzahl. Ursprünglich war ja unser Wunsch gewesen das der Arzt Jonathan operieren sollte den ich versehentlich für einen Medizinstudenten gehalten hatte. Aber nachdem der andere Kinderchirurg der Klinik sich so liebevoll immer wieder nach uns erkundigt hatte und bei einem Gespräch auch den Wunsch geäußert hatte Jonathan operieren zu wollen…hatte man sich verständigt das eben einfach BEIDE die OP GEMEINSAM durchführen würden. 8o))

Also haben wir die beiden in ihrem Büro aufgesucht. Sie haben Jonathan untersucht und mit uns die Modalitäten der OP besprochen: was wird genau gemacht, wie lange wird es dauern, wo liegen die Risiken…mir war ja nicht so ganz wohl bei der Vorstellung das mein kleines Würmchen eine Vollnarkose und eine circa 3stündige OP haben würde. Aber wie mir schon bei der Voruntersuchung erklärt worden war: es war wirklich notwendig. Da musste ich wohl oder übel die Zähne zusammen beißen!!

Nach diesem Gespräch sollten wir zur Augenklinik gehen und auch dort alles besprechen.

Augenklinik…bis heute ein Reizwort bei mir! Denn diese Augenklinik in unserem Krankenhaus ist zwar bestens für uns geeignet weil alle notwendigen „Geräte“ für unseren kleinen Mann zur Verfügung stehen und man bestimmte Untersuchungen hier auch ohne großen Aufwand in Vollnarkose durchführen kann….aber!!

1. sind (zumindest einige) der Damen am Empfang unmöglich: sie sind inkompetent, oft unfreundlich und SEHR langsam…
2. sind die Wartezeiten hier schlichtweg unverschämt!!! Es muss ja nicht sein das man mit einem Baby einen Termin ausmacht und dann trotzdem 3 Stunden in einem total überfüllten Wartezimmer ausharren muss, oder??? Na gut…vielleicht liegt das auch einfach an den Damen am Empfang die nicht in der Lage sind Termine ordentlich zu koordinieren…

Auf jeden Fall war es eine größere Herausforderung unser Gespräch mit einem Arzt der Augenklinik bezüglich der OP zu bekommen.

Eigentlich war ja alles schon besprochen, angekündigt und auch geplant. EIGENTLICH. Aber die Dame am Empfang mit der ich gesprochen habe um mich anzumelden wusste überhaupt nicht um was es geht. Oder wollte es nicht verstehen. Ich habe ihr erklärt das ich einen Zettel von der Kinderklinik dabei habe in dem ich gebeten werde JETZT in der Augenklinik zu erscheinen und über die anstehende OP zu reden.

Das reichte der Dame aber nicht als Information: sie habe keine Akte von uns. Gut…das ist aber eigentlich nicht mein Problem, schließlich waren wir schon zu einer Untersuchung mit Jonathan in der Augenklinik, die anstehende OP war mit den Augenärzten geplant worden und wenn dort keine Akte angelegt worden war, war das sicherlich nicht MEIN Versäumnis.

Ich habe ihr dann den Vorschlag gemacht dass sie ja wegen der medizinischen Unterlagen in die Akte der Kinderklinik schauen könnte??? Aber das war technisch nicht möglich, sie habe keinen Zugriff. Okay….von unseren Chirurgen hatten wir einen Bogen mit Aufklebern (typische Krankenhausaufkleber mit Name, Geburts-Datum und Patientennummer von Jonathan) und weitere „Laufzettel“ bekommen die wir in der Augenklinik abgeben sollten: also habe ich diese Sachen auf den Tresen gelegt und gemeint das diese Unterlagen uns von Dr. …. ausgehändigt worden seien. Daraufhin wurde ich gefragt wer dieser Arzt sei??? Ich antwortete dass es der Chirurg ist. Leider war es aber auch mit diesen Unterlagen nicht möglich uns zu unserem Gespräch vorzulassen.

Wir bräuchten von der Kinderklinik weitere Unterlagen, erst dann könne in der Augenklinik eine Akte angelegt werden.

Langsam wurde ich ungehalten!! Wenn es gar keine Akte gab, wieso hatte ich dann JETZT einen Termin zum Gespräch bekommen???

Also habe ich noch einmal versucht der Dame zu erklären dass wir Unterlagen von den Chirurgen bekommen hätten und die OP doch schon gemeinsam mit der Augenklinik geplant sei. Daraufhin wurde ich von ihr zum zweiten Mal gefragt wer denn Dr….sei. „Immer noch der Chirurg der Kinderklinik!“ konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. So eine Unfähigkeit machte mich echt rasend! Und langsam ließ auch der Ton der Dame zu wünschen übrig. Sie beharrte darauf das sie weitere Unterlagen benötige sonst könne sie uns nicht aufnehmen.

Gut, da war wohl nichts zu machen. Also sind mein Mann, Jonathan und ich wieder zurück zu den Chirurgen gelaufen und haben bei ihnen geklopft. Wir haben erklärt dass wir nicht vorgelassen werden und nicht verstehen wo das Problem genau liegt? Eine Akte MUSSTE doch existieren!! Und die Unterlagen die die Chirurgen uns mitgegeben haben reichten offensichtlich nicht aus.

Mein „Medizinstudent“ meinte dann wir sollten uns entspannen und Platz nehmen, er gehe jetzt zur Augenklinik und kläre das für uns.

Keine 10 Minuten später war er wieder da, hat mit den Augen gerollt und gesagt das wir nun einen zweiten Versuch starten und uns dort anmelden gehen könnten.

Ich weiß nicht was er dort gesagt oder gemacht hat, aber so freundlich und zuvorkommend wie die Dame am Empfang urplötzlich war habe ich sie bis heute nicht wieder erlebt. Auf einmal waren die Unterlagen ausreichend, die Anmeldung kein Problem und scheinbar war auch die Akte wieder aufgetaucht. Warum war es plötzlich so einfach? Keine Ahnung, ich möchte es auch gar nicht wissen….egal!! Wir waren nun im Wartezimmer und das war ja das Wichtigste!!

Nach geraumer Wartezeit wurden wir dann auch ins Sprechzimmer gerufen. Der Arzt ist mit uns noch mal im Detail durchgegangen was am kommenden Tag für Untersuchungen in der Narkose gemacht würden: der Augendruck würde noch einmal genauer gemessen werden und man würde sich den Augenhintergrund anschauen. Maximale Dauer der Untersuchung: 15 Minuten. Danach würden wir sofort das Ergebnis erhalten.

Hörte sich gut an. Und nun.. der letzte Punkt auf der To-Do-Liste: Gespräch mit dem Narkosearzt.

Also haben wir uns auf den Weg gemacht. Gar nicht so einfach sich in dieser Klinik nicht zu verlaufen! Alles sehr verwinkelt gebaut und die Anästhesie ist auch noch in einem anderen Stockwerk.

Aber wir haben es gefunden und uns angemeldet. Dann wurden wir in den Wartebereich gebeten, aber außer uns war niemand da: es würde also nicht so lange dauern. Und das hat es auch nicht. Schon nach wenigen Minuten wurden wir vom Anästhesisten abgeholt (ich kannte ihn sogar: Marvin war vor einigen Jahren auch schon mal in dieser Klinik operiert worden und damals war er auch derjenige der mit mir das Narkosegespräch führte).

In seinem Büro angekommen haben wir dann kurz besprochen was genau operiert werden würde, wo die Risiken der Narkose lagen und wie lange es in etwa insgesamt dauern würde. Wir haben ihn dann darauf hingewiesen das Jonathan unter einem sehr seltenen Gendefekt leidet. Natürlich war ihm diese Erkrankung nicht bekannt und er wollte nähere Informationen darüber haben. (Es war zudem auch unsere erste OP und niemand wusste ob und was für Auswirkungen die Narkose haben würde. Da war es sinnvoll in der Literatur zu stöbern!)

Ich schweife mal kurz ab: wir haben einen Leitz-Ordner voller Unterlagen über Jonathan – Arztbriefe, Untersuchungsergebnisse und auch alle Informationen die es über MOPD I im Netz gibt. Inklusive der Unterlagen die unsere Humangenetikerin uns zur Verfügung gestellt hat. Dieser Ordner war…zu Hause. Blöderweise. Wir hatten SO VIEL Gepäck dabei für diesen Klinikaufenthalt: Klamotten, Spielzeug, Bücher, Kuscheltiere und ein Kopfkissen für Jonathan…und natürlich hatte mein Mann auch eine Tasche für sich dabei. Wir hatten den Ordner schlichtweg vergessen…

..und ärgerten uns jetzt maßlos darüber! Denn wir hätten alle gewünschten Informationen mit einem Handgriff liefern können…aber ok: es war jetzt nun mal wie es war. (Seitdem haben wir den Ordner aber NIE mehr vergessen wenn wir einen Arzttermin hatten!)

Da wir uns intensiv mit dem Krankheitsbild beschäftigt hatten, konnten wir einige Internetadressen mit Informationen auch auswendig benennen. So suchte der Narkosearzt sich die Infos zusammen. Das dauerte natürlich ein wenig. Naja: es dauerte ein wenig länger…wir hatten nicht gedacht das wir SO LANGE hier sitzen würden. Jetzt war die Zeit gekommen zu der Jonathan Hunger bekommt. Zum Glück hatten wir den Wickelrucksack mit allem nötigen dabei. 8o)

Also habe ich ihm eine Flasche gemacht während mein Mann und der Arzt im Internet surften. Aber Jonathan fand das alles hier viel zu SPANNEND um anständig zu essen. Wir würden es dann später noch einmal versuchen, wir wollten sehen das er über den Tag ein wenig mehr aß als sonst: er musste ja 6 Stunden vor der OP nüchtern bleiben und das bedeutete, das er seine gewohnte Flasche in der Nacht nicht trinken dürfte.

Mir machte es schon ein wenig Sorgen wie er damit klarkommen würde: würde er in der Nacht sehr schlimm schreien vor Hunger? Oder würde die ungewohnte Umgebung ihm sowieso den Appetit verderben?

Immerhin versprach der Anästhesist das Jonathan ganz früh am Morgen operiert würde: Kinder seien immer die ersten im OP damit sie nicht unnötig lange ihren Hunger aushalten müssten.

Außerdem wollte der Anästhesist alle ausgedruckten Unterlagen einem Spezialisten der Augenklinik vorlegen. Vermutlich würde dieser bei einem so seltenen Krankheitsbild selbst mal vorbeikommen wollen.

Wir hatten damit kein Problem: seit wir wussten welche Diagnose Jonathan hat, haben wir immer deutlich zum Ausdruck gebracht das die Ärzte gerne über Jonathan veröffentlichen und in Medizinerkreisen berichten dürfen. (Wenn Bilder von ihm gezeigt oder gedruckt werden sollen werden wir vorher immer um unser Einverständnis gebeten.)

Wir denken dass es hilfreich sein kann so einen seltenen Fall in Medizinerkreisen bekannter zu machen. Ohne den Bericht der Mutter des Mädchens mit Elektrolytverlust hätten wir vielleicht unser Medikament nicht bekommen und ohne dieses Medikament..wäre Jonathan heute vermutlich nicht mehr da. Also: wer weiß wem es mal hilft medizinische Details über Jonathan zu finden!!! Und deswegen stimmen wir immer gern zu wenn ein Arzt sich Jonathan genauer anschauen möchte.

ABER: und das ist mir an der Stelle wichtig zu erwähnen!! Wir möchten nicht das Jonathan ein „Versuchskaninchen“ wird und wägen deswegen schon ab ob die durchgeführten Untersuchungen notwendig sind und ob sie einen Nutzen haben. Wir würden zum Beispiel nie einer invasiven Untersuchung zustimmen wenn sie nicht absolut notwendig erscheint!

Ein Beispiel: Kinder mit dem Gendefekt MOPD Typ 2 (der sich etwas anders darstellt und auch etwas anders verläuft als Typ 1, aber trotzdem in vielen Punkten identisch ist) haben eine sehr große Neigung zu Aneurysmen. Ein Aneurysma ist laienhaft gesagt eine sackartige Erweiterung einer Schlagader in Folge einer „Verstopfung“: zum Beispiel ausgelöst durch eine Trombose. Die Gefahr hierbei besteht in der Ruptur, also in einem Riss der Schlagader. Erkennt man ein Aneurysma im Gehirn rechtzeitig, besteht die Chance es zu „clippen“ - es also zu entfernen.

Es ist nicht so genau bekannt ob auch Kinder mit MOPD Typ 1 diese Neigung zu Aneurysmen haben – bei so wenigen Fällen, die auch noch sehr früh verstorben sind, kann man es nicht mit Sicherheit sagen. Um zu erfahren ob hier eine Gefahr droht müsste man in regelmäßigen Abständen ein MRT des Kopfes machen – natürlich in Vollnarkose, denn Jonathan würde nicht lange genug still halten um die Untersuchung durchführen zu können. Und: um die Adern wirklich sichtbar zu machen und kontrollieren zu können müsste man auch ein Kontrastmittel ins Gehirn einbringen.

Diese Untersuchung war eigentlich für den Zeitpunkt um seinen 2ten Geburtstag herum geplant. Gleichzeitig wollte man dabei kontrollieren wie, und ob, sich seine Hirnwindungen verändert haben.

Einige Monate vor der geplanten Untersuchung erhielten wir einen Anruf von unserer Humangenetikerin. Sie hatte mit der zuständigen Neurochirurgin gesprochen und diese meinte dass man bei Jonathans Kopfgröße ein Aneurysma nicht operieren könnte. Selbst mit den kleinsten ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten würde sie bei einer OP vermutlich noch mehr kaputt machen. Fazit: sollte beim MRT ein Aneurysma gefunden werden – könnte man es nicht operieren ohne noch größeren Schaden anzurichten. Mein Mann und ich haben uns intensiv unterhalten und entschieden dass wir in dem Falle gar kein MRT durchführen lassen werden. Denn diese Untersuchung hätte keinen Nutzen: sollte etwas gefunden werden, könnte man es nicht operativ beheben. Wir würden mit dem Wissen um ein Aneurysma das jederzeit rupturieren könnte nur unruhig werden…besser dann gar nichts zu wissen!!

Das in dem Falle die Ärzte auch nicht erfahren werden wie die Hirnwindungen heute aussehen - ist für uns nebensächlich.


Mit dieser kleinen „Geschichte“ habe ich jetzt aber circa ein Jahr vorgegriffen. Wir befinden uns ja eigentlich kurz nach Jonathans erstem Geburtstag in der Klinik und warten auf die OP am kommenden Tag.

Nachdem wir beim Narkosearzt fertig waren hatten wir alle Termine „abgearbeitet“ und konnten zurück auf Station. Jetzt hieß es noch ein wenig spielen, das Abendritual so gut wie möglich so wie zu Hause durchzuführen und Jonathan noch zweimal zu füttern bevor er nichts mehr zu sich nehmen durfte.

Alle diese Aufgaben lagen jetzt bei meinem Mann, ich verabschiedete mich und fuhr nach Hause um mich um Marvin zu kümmern.

An diesem Abend war ich sehr nervös. Ich hatte extreme Angst vor der Narkose: Jonathan hatte Bluthochdruck und Epilepsie, er war sehr klein und wog sehr wenig…ich hatte solche Angst das er aus der Narkose nicht mehr aufwachen würde, das irgendwas schief gehen würde.

Die Bilder des Krampfanfalls suchten mich wieder heim…die Angst und die Unruhe die ich verspürt hatte als ich glaubte mein Kind nicht mehr lebend zu sehen waren auch wieder da…mein Hals war eng, 1000 Schmetterlinge in meinem Bauch. Aber trotzdem musste ich äußerlich cool bleiben und Marvin davon überzeugen das alles gut gehen würde: „Das ist gar kein Problem: so eine OP machen die täglich! In ein paar Tagen ist Dein Bruder wieder zu Hause!“…glaubte ich das auch??? Ich MUSSTE es glauben, oder?? Selbsterfüllende Prophezeiung und so….

Irgendwann in dieser schlaflosen Nacht war ich kurz davor in die Klinik zu fahren und meinen Mann zu Marvin nach Hause zu schicken weil bei mir das Kopfkino einsetzte und ich mir vorstellte das dies die letzte Nacht von Jonathan auf Erden war – und die wollte ICH mit ihm verbringen…ich habe unfassbar doll und lange geweint. Und bin dann doch zu Hause geblieben weil ich mir selbst gesagt habe dass ich mich am Riemen reißen muss!!

Auch diese Nacht ging vorbei, der Wecker klingelte. Ich machte mich fertig, habe Marvin Schulbrote gemacht und ihm Frühstück hingestellt, ihn geweckt und bin losgefahren. Ich wollte pünktlich sein, denn es ging ganz früh in den OP.