Nachdem
wir uns auf Station eingerichtet hatten sollten wir zum Gespräch mit unseren
Chirurgen gehen. Ja: CHIRURGEN, Mehrzahl. Ursprünglich war ja unser Wunsch
gewesen das der Arzt Jonathan operieren sollte den ich versehentlich für einen
Medizinstudenten gehalten hatte. Aber nachdem der andere Kinderchirurg der
Klinik sich so liebevoll immer wieder nach uns erkundigt hatte und bei einem
Gespräch auch den Wunsch geäußert hatte Jonathan operieren zu wollen…hatte man
sich verständigt das eben einfach BEIDE die OP GEMEINSAM durchführen würden.
8o))
Also
haben wir die beiden in ihrem Büro aufgesucht. Sie haben Jonathan untersucht
und mit uns die Modalitäten der OP besprochen: was wird genau gemacht, wie
lange wird es dauern, wo liegen die Risiken…mir war ja nicht so ganz wohl bei
der Vorstellung das mein kleines Würmchen eine Vollnarkose und eine circa
3stündige OP haben würde. Aber wie mir schon bei der Voruntersuchung erklärt
worden war: es war wirklich notwendig. Da musste ich wohl oder übel die Zähne
zusammen beißen!!
Nach
diesem Gespräch sollten wir zur Augenklinik gehen und auch dort alles
besprechen.
Augenklinik…bis
heute ein Reizwort bei mir! Denn diese Augenklinik in unserem Krankenhaus ist
zwar bestens für uns geeignet weil alle notwendigen „Geräte“ für unseren
kleinen Mann zur Verfügung stehen und man bestimmte Untersuchungen hier auch
ohne großen Aufwand in Vollnarkose durchführen kann….aber!!
1. sind (zumindest
einige) der Damen am Empfang unmöglich: sie sind inkompetent, oft unfreundlich
und SEHR langsam…
2. sind
die Wartezeiten hier schlichtweg unverschämt!!! Es muss ja nicht sein das man
mit einem Baby einen Termin ausmacht und dann trotzdem 3 Stunden in einem total
überfüllten Wartezimmer ausharren muss, oder??? Na gut…vielleicht liegt das
auch einfach an den Damen am Empfang die nicht in der Lage sind Termine
ordentlich zu koordinieren…
Auf jeden
Fall war es eine größere Herausforderung unser Gespräch mit einem Arzt der
Augenklinik bezüglich der OP zu bekommen.
Eigentlich
war ja alles schon besprochen, angekündigt und auch geplant. EIGENTLICH. Aber
die Dame am Empfang mit der ich gesprochen habe um mich anzumelden wusste
überhaupt nicht um was es geht. Oder wollte es nicht verstehen. Ich habe ihr
erklärt das ich einen Zettel von der Kinderklinik dabei habe in dem ich gebeten
werde JETZT in der Augenklinik zu erscheinen und über die anstehende OP zu
reden.
Das
reichte der Dame aber nicht als Information: sie habe keine Akte von uns.
Gut…das ist aber eigentlich nicht mein Problem, schließlich waren wir schon zu
einer Untersuchung mit Jonathan in der Augenklinik, die anstehende OP war mit
den Augenärzten geplant worden und wenn dort keine Akte angelegt worden war,
war das sicherlich nicht MEIN Versäumnis.
Ich habe
ihr dann den Vorschlag gemacht dass sie ja wegen der medizinischen Unterlagen
in die Akte der Kinderklinik schauen könnte??? Aber das war technisch nicht
möglich, sie habe keinen Zugriff. Okay….von unseren Chirurgen hatten wir einen
Bogen mit Aufklebern (typische Krankenhausaufkleber mit Name, Geburts-Datum und
Patientennummer von Jonathan) und weitere „Laufzettel“ bekommen die wir in der
Augenklinik abgeben sollten: also habe ich diese Sachen auf den Tresen gelegt
und gemeint das diese Unterlagen uns von Dr. …. ausgehändigt worden seien.
Daraufhin wurde ich gefragt wer dieser Arzt sei??? Ich antwortete dass es der
Chirurg ist. Leider war es aber auch mit diesen Unterlagen nicht möglich uns zu
unserem Gespräch vorzulassen.
Wir
bräuchten von der Kinderklinik weitere Unterlagen, erst dann könne in der Augenklinik
eine Akte angelegt werden.
Langsam
wurde ich ungehalten!! Wenn es gar keine Akte gab, wieso hatte ich dann JETZT
einen Termin zum Gespräch bekommen???
Also habe
ich noch einmal versucht der Dame zu erklären dass wir Unterlagen von den
Chirurgen bekommen hätten und die OP doch schon gemeinsam mit der Augenklinik
geplant sei. Daraufhin wurde ich von ihr zum zweiten Mal gefragt wer denn
Dr….sei. „Immer noch der Chirurg der Kinderklinik!“ konnte ich mir nicht
verkneifen zu sagen. So eine Unfähigkeit machte mich echt rasend! Und langsam
ließ auch der Ton der Dame zu wünschen übrig. Sie beharrte darauf das sie
weitere Unterlagen benötige sonst könne sie uns nicht aufnehmen.
Gut, da
war wohl nichts zu machen. Also sind mein Mann, Jonathan und ich wieder zurück
zu den Chirurgen gelaufen und haben bei ihnen geklopft. Wir haben erklärt dass
wir nicht vorgelassen werden und nicht verstehen wo das Problem genau liegt?
Eine Akte MUSSTE doch existieren!! Und die Unterlagen die die Chirurgen uns
mitgegeben haben reichten offensichtlich nicht aus.
Mein
„Medizinstudent“ meinte dann wir sollten uns entspannen und Platz nehmen, er
gehe jetzt zur Augenklinik und kläre das für uns.
Keine 10
Minuten später war er wieder da, hat mit den Augen gerollt und gesagt das wir
nun einen zweiten Versuch starten und uns dort anmelden gehen könnten.
Ich weiß
nicht was er dort gesagt oder gemacht hat, aber so freundlich und zuvorkommend
wie die Dame am Empfang urplötzlich war habe ich sie bis heute nicht wieder
erlebt. Auf einmal waren die Unterlagen ausreichend, die Anmeldung kein Problem
und scheinbar war auch die Akte wieder aufgetaucht. Warum war es plötzlich so
einfach? Keine Ahnung, ich möchte es auch gar nicht wissen….egal!! Wir waren
nun im Wartezimmer und das war ja das Wichtigste!!
Nach
geraumer Wartezeit wurden wir dann auch ins Sprechzimmer gerufen. Der Arzt ist
mit uns noch mal im Detail durchgegangen was am kommenden Tag für
Untersuchungen in der Narkose gemacht würden: der Augendruck würde noch einmal
genauer gemessen werden und man würde sich den Augenhintergrund anschauen.
Maximale Dauer der Untersuchung: 15 Minuten. Danach würden wir sofort das
Ergebnis erhalten.
Hörte
sich gut an. Und nun.. der letzte Punkt auf der To-Do-Liste: Gespräch mit dem
Narkosearzt.
Also
haben wir uns auf den Weg gemacht. Gar nicht so einfach sich in dieser Klinik
nicht zu verlaufen! Alles sehr verwinkelt gebaut und die Anästhesie ist auch
noch in einem anderen Stockwerk.
Aber wir
haben es gefunden und uns angemeldet. Dann wurden wir in den Wartebereich
gebeten, aber außer uns war niemand da: es würde also nicht so lange dauern.
Und das hat es auch nicht. Schon nach wenigen Minuten wurden wir vom
Anästhesisten abgeholt (ich kannte ihn sogar: Marvin war vor einigen Jahren
auch schon mal in dieser Klinik operiert worden und damals war er auch
derjenige der mit mir das Narkosegespräch führte).
In seinem
Büro angekommen haben wir dann kurz besprochen was genau operiert werden würde,
wo die Risiken der Narkose lagen und wie lange es in etwa insgesamt dauern
würde. Wir haben ihn dann darauf hingewiesen das Jonathan unter einem sehr
seltenen Gendefekt leidet. Natürlich war ihm diese Erkrankung nicht bekannt und
er wollte nähere Informationen darüber haben. (Es war zudem auch unsere erste
OP und niemand wusste ob und was für Auswirkungen die Narkose haben würde. Da war
es sinnvoll in der Literatur zu stöbern!)
Ich
schweife mal kurz ab: wir haben einen Leitz-Ordner voller Unterlagen über
Jonathan – Arztbriefe, Untersuchungsergebnisse und auch alle Informationen die
es über MOPD I im Netz gibt. Inklusive der Unterlagen die unsere
Humangenetikerin uns zur Verfügung gestellt hat. Dieser Ordner war…zu Hause.
Blöderweise. Wir hatten SO VIEL Gepäck dabei für diesen Klinikaufenthalt:
Klamotten, Spielzeug, Bücher, Kuscheltiere und ein Kopfkissen für Jonathan…und
natürlich hatte mein Mann auch eine Tasche für sich dabei. Wir hatten den
Ordner schlichtweg vergessen…
..und
ärgerten uns jetzt maßlos darüber! Denn wir hätten alle gewünschten
Informationen mit einem Handgriff liefern können…aber ok: es war jetzt nun mal
wie es war. (Seitdem haben wir den Ordner aber NIE mehr vergessen wenn wir
einen Arzttermin hatten!)
Da wir
uns intensiv mit dem Krankheitsbild beschäftigt hatten, konnten wir einige
Internetadressen mit Informationen auch auswendig benennen. So suchte der
Narkosearzt sich die Infos zusammen. Das dauerte natürlich ein wenig. Naja: es
dauerte ein wenig länger…wir hatten nicht gedacht das wir SO LANGE hier sitzen
würden. Jetzt war die Zeit gekommen zu der Jonathan Hunger bekommt. Zum Glück
hatten wir den Wickelrucksack mit allem nötigen dabei. 8o)
Also habe
ich ihm eine Flasche gemacht während mein Mann und der Arzt im Internet
surften. Aber Jonathan fand das alles hier viel zu SPANNEND um anständig zu
essen. Wir würden es dann später noch einmal versuchen, wir wollten sehen das
er über den Tag ein wenig mehr aß als sonst: er musste ja 6 Stunden vor der OP
nüchtern bleiben und das bedeutete, das er seine gewohnte Flasche in der Nacht
nicht trinken dürfte.
Mir
machte es schon ein wenig Sorgen wie er damit klarkommen würde: würde er in der
Nacht sehr schlimm schreien vor Hunger? Oder würde die ungewohnte Umgebung ihm
sowieso den Appetit verderben?
Immerhin
versprach der Anästhesist das Jonathan ganz früh am Morgen operiert würde:
Kinder seien immer die ersten im OP damit sie nicht unnötig lange ihren Hunger
aushalten müssten.
Außerdem
wollte der Anästhesist alle ausgedruckten Unterlagen einem Spezialisten der
Augenklinik vorlegen. Vermutlich würde dieser bei einem so seltenen
Krankheitsbild selbst mal vorbeikommen wollen.
Wir
hatten damit kein Problem: seit wir wussten welche Diagnose Jonathan hat, haben
wir immer deutlich zum Ausdruck gebracht das die Ärzte gerne über Jonathan
veröffentlichen und in Medizinerkreisen berichten dürfen. (Wenn Bilder von ihm
gezeigt oder gedruckt werden sollen werden wir vorher immer um unser
Einverständnis gebeten.)
Wir
denken dass es hilfreich sein kann so einen seltenen Fall in Medizinerkreisen
bekannter zu machen. Ohne den Bericht der Mutter des Mädchens mit
Elektrolytverlust hätten wir vielleicht unser Medikament nicht bekommen und
ohne dieses Medikament..wäre Jonathan heute vermutlich nicht mehr da. Also: wer
weiß wem es mal hilft medizinische Details über Jonathan zu finden!!! Und
deswegen stimmen wir immer gern zu wenn ein Arzt sich Jonathan genauer anschauen
möchte.
ABER: und
das ist mir an der Stelle wichtig zu erwähnen!! Wir möchten nicht das Jonathan
ein „Versuchskaninchen“ wird und wägen deswegen schon ab ob die durchgeführten
Untersuchungen notwendig sind und ob sie einen Nutzen haben. Wir würden zum
Beispiel nie einer invasiven Untersuchung zustimmen wenn sie nicht absolut
notwendig erscheint!
Ein
Beispiel: Kinder mit dem Gendefekt MOPD Typ 2 (der sich etwas anders darstellt
und auch etwas anders verläuft als Typ 1, aber trotzdem in vielen Punkten
identisch ist) haben eine sehr große Neigung zu Aneurysmen. Ein Aneurysma ist
laienhaft gesagt eine sackartige Erweiterung einer Schlagader in Folge einer
„Verstopfung“: zum Beispiel ausgelöst durch eine Trombose. Die Gefahr hierbei
besteht in der Ruptur, also in einem Riss der Schlagader. Erkennt man ein
Aneurysma im Gehirn rechtzeitig, besteht die Chance es zu „clippen“ - es also
zu entfernen.
Es ist
nicht so genau bekannt ob auch Kinder mit MOPD Typ 1 diese Neigung zu
Aneurysmen haben – bei so wenigen Fällen, die auch noch sehr früh verstorben
sind, kann man es nicht mit Sicherheit sagen. Um zu erfahren ob hier eine
Gefahr droht müsste man in regelmäßigen Abständen ein MRT des Kopfes machen –
natürlich in Vollnarkose, denn Jonathan würde nicht lange genug still halten um
die Untersuchung durchführen zu können. Und: um die Adern wirklich sichtbar zu
machen und kontrollieren zu können müsste man auch ein Kontrastmittel ins
Gehirn einbringen.
Diese
Untersuchung war eigentlich für den Zeitpunkt um seinen 2ten Geburtstag herum
geplant. Gleichzeitig wollte man dabei kontrollieren wie, und ob, sich seine
Hirnwindungen verändert haben.
Einige
Monate vor der geplanten Untersuchung erhielten wir einen Anruf von unserer
Humangenetikerin. Sie hatte mit der zuständigen Neurochirurgin gesprochen und
diese meinte dass man bei Jonathans Kopfgröße ein Aneurysma nicht operieren
könnte. Selbst mit den kleinsten ihr zur Verfügung stehenden Instrumenten würde
sie bei einer OP vermutlich noch mehr kaputt machen. Fazit: sollte beim MRT ein
Aneurysma gefunden werden – könnte man es nicht operieren ohne noch größeren
Schaden anzurichten. Mein Mann und ich haben uns intensiv unterhalten und
entschieden dass wir in dem Falle gar kein MRT durchführen lassen werden. Denn
diese Untersuchung hätte keinen Nutzen: sollte etwas gefunden werden, könnte
man es nicht operativ beheben. Wir würden mit dem Wissen um ein Aneurysma das
jederzeit rupturieren könnte nur unruhig werden…besser dann gar nichts zu
wissen!!
Das in
dem Falle die Ärzte auch nicht erfahren werden wie die Hirnwindungen heute
aussehen - ist für uns nebensächlich.
Mit
dieser kleinen „Geschichte“ habe ich jetzt aber circa ein Jahr vorgegriffen.
Wir befinden uns ja eigentlich kurz nach Jonathans erstem Geburtstag in der
Klinik und warten auf die OP am kommenden Tag.
Nachdem
wir beim Narkosearzt fertig waren hatten wir alle Termine „abgearbeitet“ und
konnten zurück auf Station. Jetzt hieß es noch ein wenig spielen, das
Abendritual so gut wie möglich so wie zu Hause durchzuführen und Jonathan noch
zweimal zu füttern bevor er nichts mehr zu sich nehmen durfte.
Alle
diese Aufgaben lagen jetzt bei meinem Mann, ich verabschiedete mich und fuhr
nach Hause um mich um Marvin zu kümmern.
An diesem
Abend war ich sehr nervös. Ich hatte extreme Angst vor der Narkose: Jonathan
hatte Bluthochdruck und Epilepsie, er war sehr klein und wog sehr wenig…ich
hatte solche Angst das er aus der Narkose nicht mehr aufwachen würde, das
irgendwas schief gehen würde.
Die
Bilder des Krampfanfalls suchten mich wieder heim…die Angst und die Unruhe die
ich verspürt hatte als ich glaubte mein Kind nicht mehr lebend zu sehen waren
auch wieder da…mein Hals war eng, 1000 Schmetterlinge in meinem Bauch. Aber
trotzdem musste ich äußerlich cool bleiben und Marvin davon überzeugen das
alles gut gehen würde: „Das ist gar kein Problem: so eine OP machen die
täglich! In ein paar Tagen ist Dein Bruder wieder zu Hause!“…glaubte ich das
auch??? Ich MUSSTE es glauben, oder?? Selbsterfüllende Prophezeiung und so….
Irgendwann
in dieser schlaflosen Nacht war ich kurz davor in die Klinik zu fahren und
meinen Mann zu Marvin nach Hause zu schicken weil bei mir das Kopfkino
einsetzte und ich mir vorstellte das dies die letzte Nacht von Jonathan auf
Erden war – und die wollte ICH mit ihm verbringen…ich habe unfassbar doll und
lange geweint. Und bin dann doch zu Hause geblieben weil ich mir selbst gesagt
habe dass ich mich am Riemen reißen muss!!
Auch
diese Nacht ging vorbei, der Wecker klingelte. Ich machte mich fertig, habe
Marvin Schulbrote gemacht und ihm Frühstück hingestellt, ihn geweckt und bin
losgefahren. Ich wollte pünktlich sein, denn es ging ganz früh in den OP.