Freitag, 8. September 2017

Die ersten Tage nach dem Krampfanfall zu Hause waren sehr schlimm für mich: ich hatte Angst, eher schon richtige Panik!, das es wieder passieren könnte.

Ich habe Jonathan den ganzen Tag auf meinem Arm herumgetragen, die Hausarbeit blieb liegen…wenn er geschlafen hat dann auch tagsüber meist in meinem Arm. War ich gezwungen ihn doch mal in sein Bett zu legen (weil ich duschen oder kochen musste), dann bin ich alle paar Minuten in sein Zimmer gerannt um nach ihm zu sehen.

Mein Mann hat in dieser ersten Zeit komplett im Homeoffice gearbeitet weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte das er tagsüber stundenlang circa 90 Kilometer entfernt ist. (DANKE AN DIESER STELLE AN MAX DAFÜR DAS DIES ÜBERHAUPT MÖGLICH WAR!
MAX: THANK YOU FOR BEING SO GENEROUS AT THIS TIME!)

Aber mit jedem Tag der verging gewann ich ein Stückchen „Vertrauen“ zurück und es ging mir besser. Auch Jonathan ging es zunehmend besser: die Wirkung der krampflösenden Medikamente verging und er war nicht mehr so müde und schlapp, der Ausschlag verblasste.

Die Wochen vergingen und wir feierten unsere kirchliche Hochzeit in ganz kleinem Rahmen: 1.war es für uns ein sehr „intimer“ Tag an dem es uns ausschließlich darum ging Gottes Segen zu erhalten für unseren Weg mit Jonathan - dieser Weg würde schwierig werden und wir könnten jede Hilfe gebrauchen die wir bekommen konnten. Und 2.wäre uns eine große Feier mit Jonathan auch zu anstrengend gewesen. Wir wollten es in diesen Wochen ein bisschen „ruhiger“ angehen lassen aus Angst dass erneut ein Krampfanfall entstehen könnte wenn der kleine Mann zu sehr unter Stress stand.

Die OP an Leistenbruch und Hodenhochstand rückte näher, in circa zwei Wochen sollte sie durchgeführt werden - und mir graute schon sehr davor!!!  Um auf andere Gedanken zu kommen beschlossen wir Jonathans Geburtstagsausflug nun endlich nachzuholen! 8o)

Also haben wir samstags alles zusammen gepackt und sind in den Zoo gefahren. Hach, was waren wir aufgeregt! 8o))

Auch an diesem Tag wurden wir wieder einige Male angesprochen in der Art: „Wie alt ist denn das Kleine? Bestimmt noch ganz frisch, oder?“. Und wir mussten uns wieder einige Male vehement dagegen wehren wenn jemand Jonathan einfach anfassen wollte. Okay: das würde nun also unser Leben sein wenn wir in die Öffentlichkeit gingen! Wir mussten uns wohl oder übel daran gewöhnen…

Was mir von diesem Tag in Erinnerung geblieben ist, weil es mir sehr wehgetan hat, war die Aussage eines kleinen Mädchens.
Wir saßen beim Mittagessen, Jonathan schaute über meine Schulter zum Nachbartisch und dort saß das Mädchen –sie war vielleicht 2 oder 3- mit ihren Eltern und aß zu Mittag. Sie schaute Jonathan sehr intensiv an und sagte dann: „Papa schau mal, das Baby ist SOOO HÄSSLICH!“….ihren Eltern war das offensichtlich sehr peinlich, hatten die doch sofort bemerkt das Joni nicht gesund ist. Ich war nicht böse oder sauer..das war die Aussage eines Kindes, Kinder reden wie sie denken und das ist auch gut so! Trotzdem.. ich hatte dicke Tränen in den Augen und musste mehrfach schlucken. Ich weiß das mein Sohn „anders“ aussieht, ich sehe es ja selbst..aber es ausgesprochen zu hören war schon schlimm.

Aber bis auf diese Punkte: war der Ausflug in den Zoo genau so toll wie wir ihn uns ausgemalt hatten! Natürlich hat Jonathan nicht über den ganzen Zoobesuch hinweg aufmerksam alle Tiere angeschaut – das kann man ja noch nicht mal von einem gesunden Einjährigen erwarten, also erst Recht nicht von ihm! Aber er hat Giraffen, Zebras und besonders die Elefanten bestaunt! Ein Elefant stand direkt vor uns und hat mit dem Rüssel gewedelt: Jonathan war völlig weggetreten vor Faszination über dieses große Tier! Deswegen hat er als Erinnerung auch einen Mini-Elefanten aus Plüsch bekommen. 8o)

In den nächsten Tagen erzählten wir jedem wie toll unser Ausflug gewesen war. Wie sehr wir es genossen hätten etwas „normales“ zu tun und einfach mal gemeinsam Spaß zu haben!

Allerdings schlief ich trotz dieses schönen Erlebnisses jede Nacht ein bisschen schlechter, mir drehte sich der Magen um und ich hatte das Gefühl nicht mehr atmen zu können: der OP-Termin kam näher…


Rota-Viren
Und dann saßen wir abends mit Jonathan auf der Couch und gaben ihm die letzte Milchflasche des Tages. Er trank – und spuckte die Milch wieder aus. Naja, ab und an passiert das ja mal. Aber irgendwie…hatte ich auf einmal ein komisches Gefühl! Ich sagte zu meinem Mann das er auch mittags nach dem Gläschen gespuckt habe und nun schon wieder? Komisch…aber ok.

Wir haben nicht weiter darüber nachgedacht und ihn gekuschelt damit er einschlafen konnte. Aber er setzte sich hoch und…spuckte schon wieder. Hmmm…also jetzt wurde es mir mulmig! Das hatte er ja noch nie gemacht!

Um es kurz zu machen: das war erst der Anfang. In dieser Nacht hörte Jonathan nicht mehr auf sich zu übergeben und bekam auch Durchfall. Er trank zwischendurch immer wieder Milch und auch Tee, Flüssigkeit nahm er also auf – aber er erbrach alles wieder. Immer und immer wieder…er war völlig erschöpft und gegen Morgen war keine Flüssigkeit mehr da die er hätte ausspucken können, aber er würgte sich trotzdem unfassbar stark. Ich war nun soweit den Notarzt anzurufen.

Und in diesem Moment ging es ihm augenscheinlich besser: weder Erbrechen noch Durchfall, er entspannte sich und konnte ein wenig schlafen. Das habe ich auch getan. Aber kaum öffnete der Kinderarzt, habe ich dort angerufen und geschildert wo das Problem lag. Ich solle sofort in die Praxis kommen bekam ich gesagt.

Jonathan ist mein zweites Kind und man entwickelt ja schon ein Gespür dafür wann eine Erkrankung schlimmer ist…an diesem Morgen habe ich ernsthaft überlegt schon eine Tasche mit Klamotten für die Klinik zu packen und mit zum Arzt zu nehmen. Aber dann habe ich gedacht: das ist dann die SELBSTERFÜLLENDE PROPHEZEIHUNG! Das kann ich nicht machen, denn sonst lande ich auf jeden Fall im Krankenhaus…

Also bin ich ohne Tasche zum Arzt gefahren.

Jonathan war munter und hat geplappert und gestrampelt. Der Arzt kam und ich habe erzählt wie die Nacht so war. Er hat sich alles angehört, dabei gefragt was wir vor 2-3 Tagen gemacht hätten (ich sagte das wir im Zoo waren) und Jonathan dann ausgezogen bis er den nackten Bauch vor sich hatte. Dann hat er vorsichtig eine Hautfalte zwischen die Finger genommen, hochgezogen, losgelassen und ein niederschmetterndes Urteil gefällt:

„Es tut mir wirklich total leid. Aber Sie müssen in die Klinik fahren. Jonathan ist dehydriert und braucht vermutlich eine Infusion. Ich weiß das ist schwer für Sie…aber wir bekommen das jetzt nicht alleine hin, es ist notwendig! Ok? Ich telefoniere mit der Klinik und melde Sie an, Sie fahren heim und packen ein paar Sachen ein. Aber dann fahren Sie bitte SOFORT los. Es könnte sein das Jonathan die Rota-Viren hat. Ich melde mich in den kommenden Tagen bei Ihnen, in Ordnung?“

Ich weiß nur noch dass ich genickt und „Ok“ gesagt habe. Ich vertraute unserem Arzt, wenn er sagte das es NOTWENDIG war: dann war es das auch…aber mir gingen tausend Gedanken durch den Kopf: da hatte ich so lange von der Feier zum ersten Geburtstag geträumt und dann hatten wir den Tag nicht so feiern können wie wir wollten. Bald sollte die OP durchgeführt werden und wir würden für einige Tage in der Klinik bleiben müssen. Und JETZT sollte ich da auch hinfahren und wir würden sicherlich über Nacht bleiben müssen?? Allein beim Gedanken an die Geräusche und Gerüche ging mir der Hals zu…

Ich konnte meine Tränen nicht mehr unterdrücken. War mir peinlich, aber ließ sich nicht ändern. Die Vorstellung das Jonathan heute Abend nicht zu Hause sein würde war nun mal schlimm für mich. Und auch für Marvin würde das schlimm sein! Als Jonathan die ersten fünf Monate seines Lebens in der Klinik verbracht hatte war das für uns „normal“: wir kannten es ja nicht anders. Doch als er dann wegen der Krampfanfälle einige Tage nicht bei uns war…war das Haus auf einmal so leer und so still. Das hatten wir alle gespürt und ich hatte wenig Lust darauf das in den kommenden Tagen schon  wieder zu erleben!

Mir blieb aber keine Wahl, der Kinderarzt sagte zwar nicht dass Lebensgefahr bestehe – bat mich aber mich so schnell als möglich auf den Weg zu machen und im Krankenhaus auf einem Test nach Rota-Viren zu bestehen.

Also bin ich heimgefahren um die Tasche zu packen und habe mich nun doch geärgert das ich morgens nicht auf mein Bauchgefühl vertraut und sie schon fertig gemacht hatte. Beim Packen habe ich dann meinen Mann angerufen und auf den neuesten Stand gebracht. Er war betroffen und meinte das er leider nicht sofort in die  Klinik kommen könnte: er habe noch ein paar wichtige Meetings, käme aber am Nachmittag. Und weil er mich kennt…sagte er auch direkt das er mit seinem Chef sprechen und diesem mitteilen würde das er morgen nicht zur Arbeit käme, denn sicherlich sollte er bei Jonathan in der Klinik bleiben??? Ich solle dann gleich ein paar Sachen für ihn mit einpacken. Große Erleichterung meinerseits…spätestens seit den fünf Monaten Neonatologie sind Kliniken nicht meine Welt. Und dort zu übernachten ist für mich eine Horrorvorstellung. Wenn ich müsste würde ich es tun – aber wenn ich nicht muss, bin ich sehr froh.

Dann noch meinen Vater anrufen: er musste bei Schulschluss an der Schule stehen und Marvin abholen, ihm erklären das Jonathan in der Klinik sei. Ich würde mich melden und Marvin dann später bei meinen Eltern abholen. 

Danach habe ich also alles gepackt, vor allem die Medikamente!, und bin losgefahren. Nach 45 Minuten waren wir da und sind in die Kinderklinik gegangen. Wie versprochen hatte unser Arzt uns schon angekündigt und auch erwähnt das wir bitte NICHT im Wartezimmer sitzen sollten – also hat man uns in ein Sprechzimmer gebracht.

Jonathan meckerte ein bisschen und ich dachte das ich die Wartezeit ja damit überbrücken könnte das ich ihm ein wenig Tee gäbe. Er trank…und trank…und trank…am Ende waren es 170ml Tee, quasi in einem Zug. Das war das Vielfache von dem was er sonst trank. Und in diesem Moment war mir klar: hier stimmt etwas ganz und gar nicht!!

Der Arzt kam und ich schilderte ihm die Situation. Er stellte Fragen und machte sich Notizen. Begutachtete Jonathan und nahm ihm schließlich Blut für ein Blutbild und eine BGA (Blutgasanalyse) ab. Das Ergebnis kam schon nach kurzer Zeit: Jonathan war immens dehydriert und benötigte SOFORT eine Infusion. Also SOFORT. Ein paar Stunden später…und es wäre nichts mehr zu machen gewesen.

Vielleicht wäre ein gesundes und normal gewachsenes Kind nach einer Nacht nicht so ausgetrocknet, aber Jonathan ist eben anders. Viel kleiner und nicht so widerstandsfähig. Zudem leidet er an diesem unkontrollierten Elektrolytverlust der das Ganze nicht besser macht.

Wir wurden also auf Station geschickt. Dort legte man Jonathan einen Zugang in den Arm und er bekam Kochsalzlösung sowie ein Medikament gegen Übelkeit/Durchfall. Weiterhin wurde eine Stuhlprobe genommen um auf Rota-Viren zu testen.

Ja: da waren wir nun. Im Krankenhaus. Schon wieder. Ich konnte es nicht fassen. Wenigstens hatten wir ein Einzelzimmer. Immerhin!!

Ich habe ein wenig mit Jonathan gespielt und dann hat er geschlafen: klar, er war müde weil er in der Nacht kaum zur Ruhe gekommen war. Irgendwann kam dann mein Mann und hat „übernommen“. Ich bin nach Hause gefahren um mich um Marvin zu kümmern.

Die Wohnung fühlte sich genauso leer und still an wie ich mir das gedacht hatte. Und Marvin hatte Angst, auch das hatte ich vorausgesehen. Wie ging es seinem Bruder? Würde er wieder nach Hause kommen? Dieser Abend war nicht schön…

Mein Mann meldete sich zwar und sagte das es Jonathan so weit gut gehe: er habe noch Durchfall, aber sich nicht mehr erbrochen und sei ansonsten recht fit. Die Angst blieb trotzdem.

Am nächsten Morgen bin ich in die Klinik gefahren, auch an diesem Tag würde Marvin nach der Schule zu seinen Großeltern gehen. Mein Mann erzählte das die Nacht recht ruhig gewesen sei, Jonathan gehe es soweit gut. Die Ärzte würden Tests machen um zu schauen warum Jonathan diesen Brech-Durchfall hatte. Und ansonsten würde mein Mann jetzt gerne heimfahren und duschen - denn die Dusche in der Klinik…war nicht besonders hygienisch. (Wir haben im Nachgang dieses Klinikaufenthaltes der Klinikleitung eine Beschwerde per Email zukommen lassen, mehr möchte ich zu diesem Thema an der Stelle nicht erläutern.) Wir vereinbarten dass ich tagsüber bei Jonathan bleiben würde, dann könnte mein Mann auch noch ein wenig arbeiten, er würde gegen Abend wiederkommen.

Also habe ich Jonathan gekuschelt, mit ihm gespielt, ihn gefüttert: er aß recht gut. Hatte aber immer noch Durchfall. Sehr stark sogar. Ansonsten war er fit.

Nach dem Mittagessen wurde Jonathan müde. Da wir ein Einzelzimmer hatten stand das Klappbett meines Mannes noch aufgeklappt im Raum und ich habe mich mit Jonathan zusammen zu einem Mittagsschlaf hingelegt. Mit ihm im Arm habe ich die nötige Ruhe gefunden um zu schlafen.

Doch auf einmal wurde ich wach weil jemand den Raum betrat. Ich blickte verschlafen hoch und sah…den Chirurgen der Jonathans Hodenhochstand festgestellt und uns auf der Intensivstation besucht hatte. „O, hallo! Was machen SIE denn hier?“ fragte ich ihn. Und er sagte: „Ich wollte Sie nicht wecken, aber ich habe gelesen das Jonathan schon wieder hier ist und wollte nach Ihnen sehen.“. Er ist einfach so ein toller Mensch!! Wir haben geredet und er meinte das wir in Kontakt blieben wegen der geplanten OP: wir müssten ja erst schauen was nun bei den Tests herauskäme und wie es Jonathan in den nächsten Tagen gehen würde – eventuell müssten wir die OP auch verschieben.

An diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht…

Nachmittags kam eine Schwester zu uns und verkündete das die Ergebnisse der Tests vorlägen: Jonathan habe den Rota-Virus. Ich konnte es nicht fassen! Das war doch ein voll schlimmer Virus, oder?? Aber die Schwester beruhigte mich: ganz ohne sei es für Personen mit schlechtem Immunsystem natürlich nicht, aber Jonathan sei ja schon unter Beobachtung. Man könne regelmäßig kontrollieren dass er nicht dehydriere. ABER: wir stünden nun unter „Quarantäne“. Heißt: beim Betreten und Verlassen der Station mussten wir uns EXTREM gut die Hände und Unterarme desinfizieren. Wenn wir auf Station waren durften wir nicht ins Gemeinschaftszimmer für die Eltern gehen, alles was wir benötigten würden uns die Schwestern bringen. Okay: das hatte ja ein wenig den Anschein von Luxusurlaub! 8o))

Und wie lange würden wir hier bleiben müssen?, habe ich sofort gefragt. Denn mit solch einem Virus war doch vermutlich wieder ein längerer Krankenhausaufenthalt vorprogrammiert!! Aber die Schwester beruhigte mich: nur ein paar Tage bis der Durchfall besser sei, dann könnten wir gehen. Ansteckend sei Jonathan nur während des akuten Durchfalls, danach nicht mehr.

Diese Aussagen beruhigten mich. Durchfall, Erbrechen…Flüssigkeitsverlust und das in Verbindung mit dem ohnehin bestehenden Elektrolytverlust: da waren schon Ängste hochgekommen…solche Erkrankungen haben schon mehr als ein Kind mit MOPD I das Leben gekostet! Doch was die Schwester sagte hörte sich vernünftig und beruhigend an…dann wollten wir mal die „paar Tage“ in Angriff nehmen bis wir wieder nach Hause konnten!!