Freitag, 3. November 2017

Ich war früher ein sehr aktiver Mensch: engagiert im Beruf und immer offen dort Neues zu lernen, mich weiterzubilden. Geistig fit zu bleiben. Es gab viele Themen für die ich mich interessiert habe und ich war sehr oft unterwegs. Heute…ist das alles nicht mehr in der Form möglich und wird es nie mehr für mich sein.

Zwar beabsichtige ich tatsächlich wieder arbeiten zu gehen, doch das wird nur noch in Teilzeit stattfinden können – denn Jonathan braucht ja Betreuung. Ein so großes Engagement wie früher, das auch Dienstreisen beinhaltete, wird für mich nicht mehr möglich sein.

Und ausgehen…naja…Herbst/Winter/Frühling sind bestimmt von Infektionskrankheiten. Und die könnten für Jonathan gefährlich werden. Also muss ich mir sehr genau überlegen wohin ich gehen möchte, denn ich darf mich am besten mit nichts anstecken. Und da mein Mann arbeitet und ich Jonathan zu Hause betreue…verbringen wir die meisten Tage in diesen Jahreszeiten in unserem Haus. Und außer unseren Therapeuten ist mein Mann dann oft für mehrere Tage der einzige erwachsene Mensch den ich sehe…

Jonathan schläft immer noch nicht durch. Nächte in denen er das mal getan hat können wir auch heute noch an einer Hand abzählen. Es ist anstrengend, besonders für meinen Mann. Denn ich bin tagsüber so unter Druck an alle Medikamente zu denken, den Zeitplan einzuhalten, mich um beide Jungs  UND den Haushalt zu kümmern…das ich nachts einfach nicht wach werde wenn Jonathan schreit. Ich bin dermaßen erschöpft und am Ende das ich NICHTS um mich herum mehr mitbekomme. Und deswegen steht mein Mann jede Nacht auf. Jede Nacht mehrmals. Aber er muss am nächsten Morgen auch zur Arbeit fahren.

Und zu allem Überfluss ist da immer der Gedanke an die frühe Sterblichkeit von Jonathan. Das ist belastend. Sehr.

Durch Jonathans Gendefekt haben wir auch von einem „Traum“ Abschied genommen: der Traum eines dritten Kindes. Eigentlich hatten wir den Gedanken daran seit der Fehlgeburt der Zwillinge. Denn hätten wir sie bekommen hätten wir auch drei Kinder gehabt!

Aber heute wissen wir das MOPD I vererbt wird und wir es beide in uns tragen. Die Chancen dass ein weiteres Kind diese Krankheit auch hätte liegen zwar nur bei 25%, aber die Gefahr besteht. Und was machen wir wenn wir in der Schwangerschaft erfahren dass dieses Kind auch krank ist?? Was machen wir wenn die Schwangerschaft so problematisch verläuft wie die mit Jonathan: wenn ich nur liegen muss, aber mich doch um die Kinder kümmern muss?? Was machen wir wenn es ein Frühchen wird zu dem ich täglich in die Klinik fahren will, aber Jonathan nicht mitnehmen darf?? Nicht zu vergessen die psychische Belastung die eine weitere Schwangerschaft für mich bedeuten würde. Und aus diesen Gründen haben wir entschieden Maßnahmen zu ergreifen damit auf keinen Fall eine weitere Schwangerschaft stattfinden kann. Aber es ist mir nicht leicht gefallen mich von diesem Gedanken zu verabschieden! Ich habe monatelang mit mir gehadert und überlegt…mein Herz hat JA geschrien: ich will noch ein Kind!! Aber der Kopf hat gesiegt…

Ja…das ist heute unser Leben. Und so hat es sich verändert durch Jonathans Geburt.

Wenn ich meine eigenen Worte noch einmal lese dann habe ich einen Kloß im Hals. So schwarz auf weiß zu sehen wie viele negative Dinge und Momente der Alltag mit dem kleinen Mann mit sich bringt tut schon weh…das ist nicht das Leben das ich eigentlich führen wollte – so habe ich mir das nicht vorgestellt. Und doch ist es nun so…und mich hat niemand um meine Meinung gefragt.

Aber…dann sehe ich ihn an und er lacht mit mir. Seine Augen strahlen und er ist so wissbegierig! Und neugierig darauf seine kleine Welt zu entdecken!! Er möchte so viel und ist so dickköpfig!! Er lässt sich nichts sagen und trotzt allen Prognosen.

Und wenn ich das dann sehe und darüber nachdenke wie schlecht die Prognosen eigentlich waren und was wir gemeinsam schon erreicht haben…dann muss ich weinen weil ich glücklich darüber bin. Und dann sagt mein Herz mir das es das alles wert ist. Alles und noch viel mehr.

Auch wenn es nicht das Leben ist das ich führen wollte…das ist das Leben das ich habe! Und daraus muss ich nun das Beste machen. Das versuche ich ohne zu jammern….ich hoffe alle diejenigen die mich persönlich kennen empfinden das auch so!

Nun..das ist also in etwa das, was ich unseren Bekannten an diesem Abend im Playmobil-Park zu vermitteln versucht habe.

Ich hätte es vielleicht auch etwas kürzer ausdrücken können:
DAS LEBEN IST KEIN PONYHOF!!!

Der Abend im Biergarten des Playmobil-Funparks neigte sich dem Ende zu, es war mittlerweile sehr spät geworden.

Die „großen“ Kinder spielten Mini-Golf und Air-Hockey. Mein Mann war schon vor längerer Zeit mit Jonathan auf unser Zimmer gegangen um ihn ins Bett zu bringen. Es war ein großer Vorteil das wir das Parkhotel gebucht hatten: so war es möglich das ich mit meiner Freundin noch ein paar ruhige Stunden verbringen konnte. Denn die Zeit die wir miteinander verbringen ist rar - und geht für meinen Geschmack auch immer viel zu schnell vorbei. 8o))

Man verabschiedete sich, wir würden uns in einem Jahr wieder hier treffen. So wie wir es schon immer machen seit wir uns in einer Mutter-Kind-Kur kennengelernt haben – ein Ritual das ich sehr lieb gewonnen habe und auf das ich mich immer wochenlang im Vorfeld freue.

Und jetzt war es Zeit für mich und Marvin auch ins Hotel zu gehen. Die Nacht war etwas unruhig, Jonathan schläft sowieso schlecht und eine fremde Umgebung macht das nicht besser. Aber am nächsten Morgen konnten wir trotzdem voller Elan aufstehen: wir würden noch einen halben Tag im Funpark verbringen und erst nach dem Mittagessen wieder Richtung Heimat fahren.

Wir begannen den Tag mit einem Frühstück im „HOB-Center“. Dieses Gebäude ist Teil des Parks, es dient den Hotelgästen morgens als Frühstücksraum und ist eigentlich…eine riesige Indoor-Spielhalle!!! Es gibt einen Klettergarten, eine Bühne für die tägliche Minidisko und jede Menge Playmobil. Nach Themenwelten sortiert stand hier alles was der Spielzeugladen zu bieten hatte. Die Kinder konnten nach Herzenslust damit spielen…

…und wir Eltern: in Ruhe frühstücken! 8o) So lange der Park noch nicht geöffnet hat sind die Türen des HOB-Center verschlossen, man kann sein Kind also „frei laufen“ lassen – es kann nicht aus dem Raum hinaus. Ich genieße jedes Jahr aufs Neue hier ein ausgiebiges Frühstück während ich sicher bin das Marvin einen unbändigen Spaß hat!

Als der Park öffnete sind wir als erstes in die Goldgräberstadt. Auch eine Tradition bei uns: als erstes wird morgens nach Gold gegraben! Wir haben zwar mittlerweile gefühlte 5 Kilo Gold zu Hause, aber egal: Marvin muss immer wieder schürfen gehen. Also machen wir das.

Jonathan hatte aber auch furchtbaren Spaß in der Goldgräberstadt! Hier gibt es Sand ohne Ende und da es nicht kalt war haben wir ihm Schuhe und Socken ausgezogen und ihn den Sand an den Füßen spüren lassen. Er hat gequietscht und sich gefreut und wenn man ihn hochgehoben hat sah es aus als wolle er durch den Sand laufen! 

Wir hatten ein ganz tolles Wochenende hier im Park. Besonders schön fand ich das auch Jonathan hier etwas „tun“ und „erleben“ konnte: er hatte an den Wasserstraßen und im Sand gespielt, er hatte die überall herumstehenden (überdimensionalen) bunten Playmobil-Püppchen bestaunt, er hatte in einer Schaukel gelegen und auch kurz in einem Boot gesessen. Eine (Plastik-)Kuh gestreichelt und mit Papa gerutscht. Er hatte Eis gegessen.

Für ihn waren diese beiden Tage ein sehr aufregendes Erlebnis, er hatte unglaubliche viele neue Eindrücke gesammelt. Und man hatte gemerkt: es hatte ihn nicht geängstigt. Er hatte alles in sich aufgesogen, offensichtlich brauchte er mittlerweile immer wieder neuen „Input“.

Für uns bedeutete das: wir konnten unser altes Leben ein Stück weit wieder aufnehmen, wir konnten mit Jonathan aktiver werden und den ein oder anderen Ausflug unternehmen. Langsam zwar, nicht zu viel auf einmal – wir wollten ihn ja nicht überfordern! Aber wir spürten nach diesen beiden Tagen dass wir unser Leben erneut ein wenig verändern und für uns wieder ein Stückchen lebenswerter machen konnten. Das war ein sehr schönes Gefühl! Ein Gefühl als würde man ein wenig Kontrolle über sein Leben zurückbekommen…ein bisschen freier werden. Wir waren alle total euphorisch und machten uns schon Gedanken darüber wohin es als nächstes gehen sollte!! 8o))

Ein außergewöhnlicher Tagesausflug
Nur zwei Wochen später haben wir einen mal ganz anderen Tagesausflug gemacht: wir haben eine Straußenfarm besucht. Es gibt eine nur wenige Kilometer von uns entfernt. Hier werden die Strauße in Freilandhaltung gehalten. Und zwar ganzjährig.

Der Besuch begann mit einem Frühstück: Brötchen, Marmelade, Nutella und auch….Straußenwurst. Sehr außergewöhnlich und interessant. Nicht unlecker. Aber anders.

Nachdem wir uns alle gestärkt hatten sind wir in eine kleine Bahn eingestiegen. Kennt man als Touristen-Bahn aus jeder größeren Stadt: lauter kleine Wagen die von einer Lok gezogen werden. Jonathan hat das erste Mal in so einer Bahn gesessen: er hat sich sehr neugierig umgeschaut und als es losging hat er die vorbei rauschende Landschaft aufmerksam betrachtet.

Wir sind um die Weideflächen der Strauße herum gefahren, der Besitzer der Farm hat uns unterwegs mit Informationen über die Tiere versorgt: was essen sie, wie überstehen sie den Winter, sind sie aggressiv usw. Ok: das war für Jonathan weniger interessant, denn er hat nichts davon verstanden. Aber die riesigen Tiere die am Zaun standen hat er sehr wohl gesehen – und gerochen! Denn Strauße riechen sehr streng, das muss an der Stelle mal gesagt sein.

Nach der Rundfahrt ging es dann zurück auf den Hof. Hier gab es nun eine ganz besondere Leckerei: Straußenrührei. Ein Ei reicht für….20 Personen!! Echt krass!! Der Besitzer der Farm hat uns erklärt wie man ein Ei richtig öffnet, danach sind alle Kinder mit der „Bäuerin“ in die Küche gegangen und haben Rührei zubereitet. Wir haben in dieser Zeit erklärt bekommen wie man Straußenleder herstellt und wieviel dieses exklusive Leder kostet. Nichts vom Strauß wird auf dieser Farm verschwendet: auch die Federn werden weiter verarbeitet.

Das Rührei schmeckte –genau wie die Wurst vom Frühstück- anders, aber nicht unangenehm. Auch Jonathan hat ein wenig probiert. Nachdem wir alle noch etwas getrunken und in der Scheune mit den Straußenartikeln gestöbert hatten, ging es dann auch schon wieder nach Hause.

Ok, zugegeben: für Jonathan war der Ausflug eher weniger spannend. Aber wir genossen es wieder einmal etwas als Familie unternehmen zu können – Jonathan war dabei, zufrieden und offensichtlich glücklich. Was wollten wir mehr????


Der erste Besuch beim Ur-Opa
Mein Opa, der Vater meines Vaters, erfreut sich noch bester Gesundheit. Jonathan ist nicht sein erster Urenkel. Aber ein besonderer Urenkel: denn mein Opa hat Medizin studiert. Und interessiert sich im hohen Alter von 98 Jahren immer noch für Krankheiten, Gendefekte und all das was damit zusammenhängt.

Warum wir ihn erst so spät zum ersten Mal besuchten weiß ich heute auch nicht mehr so genau…ich weiß nur: mein Opa wohnt nicht um die Ecke und als Jonathan aus dem Krankenhaus entlassen wurde - waren lange Autofahrten mit ihm etwas schwierig. Außerdem stehen mit Jonathan immer so viele Termine an, ganz ehrlich: da bin ich auch froh wenn ich mal NICHT Auto fahren muss….

Nun stand aber endlich ein Besuch bei meinem Opa an. Mein Vater hatte ihn natürlich über alles informiert, er wusste also das Jonathan sehr klein war und auch warum. Kleinwuchs war ihm als Mediziner ja nun auch nicht ganz fremd! Vielleicht konnte er mit dieser Diagnose sogar mehr anfangen als jeder andere in unserer Familie. 8o)))

Jedenfalls haben wir uns dann auf die Couch gesetzt und mein Opa hat Jonathan betrachtet. Seine Hände angefasst und die Finger angeschaut. Irgendwann meinte er dann: „Kind, können wir ihn mal bis auf die Windel ausziehen? Ich würde seine Arme und Beine gerne mal nackt sehen!“…lol…ich finde es soooo cool dass sich mein Opa in seinem Alter noch so für medizinische Aspekte interessiert. Und deswegen: klar habe ich es gemacht!! Habe Jonathan auf den Couchtisch gelegt und ausgezogen.

Mein Opa hat ihn betrachtet, berührt, abgetastet…Und man hat gemerkt: der Uropa hatte sichtlich Spaß dabei! Jonathan übrigens auch. Er hat gelacht, sehr zum Gefallen meines Opas. 8o))

Irgendwann durfte ich den kleinen Mann wieder anziehen und dann haben mein Opa und ich die Prognosen der Ärzte durchgesprochen, ich habe alles erläutert was ich wusste. Mein Opa hat schon damals gesagt das er Jonathan nur in die Augen zu sehen braucht und einfach weiß, das er sehr pfiffig ist und alles nicht so schlimm kommen wird wie die Ärzte sagen! (Lebens-)Erfahrung ist manchmal mit Gold nicht aufzuwiegen….

Ich bin sehr froh meinen Opa noch zu haben, das ist nicht selbstverständlich in meinem Alter! Und dann ist mein Opa geistig auch noch rege und nimmt Anteil an Jonathans Erkrankung, ist interessiert an ihm und seiner Entwicklung und diskutiert mit mir immer wieder medizinische Befunde. Eine Erfahrung die nicht jedem vergönnt ist und deswegen bin ich sehr dankbar dafür.