Donnerstag, 14. Februar 2019


Meine Angst vor einer „nekrotisierenden Enzephalitis“ bei Jonathan stand im Raum.

Ich wusste gar nicht richtig ob ich es gut oder schlecht finden sollte dass die Neurologin (die uns im Kreiskrankenhaus betreute) mich ernst nahm und mir Fragen über den Krankheitsverlauf bei der kleinen Lotta stellte. Irgendwie hätte ich wohl in diesem Moment lieber gehört: „Machen Sie sich nicht verrückt, das kann es auf KEINEN FALL sein!“. Aber das sagte sie erstmal nicht.

Allerdings erklärte sie mir dass man bei Jonathan nun ein EEG schreiben würde – in erster Linie um herauszufinden ob der Krampfanfall das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen habe. Sollte Jonathan aber an einer Hirnhautentzündung oder einer Meningitis leiden und DAS der Grund für den Krampf gewesen sein: dann würde man das am EEG sehen können. In beiden Fällen seien die Ausschläge ganz spezifisch.

Das wusste ich bis dahin noch nicht. Aber das beruhigte mich! Denn in wenigen Minuten wüssten wir mehr….

Die Elektroden wurden angeschlossen, Jonathan schlief. Man begann das EEG zu schreiben und auch eine Kamera wurde aufgebaut um währenddessen ein Video von Jonathan zu drehen das dann bei der Auswertung helfen sollte. Ich unterhielt mich mit der Neurologin, als…Jonathan schon wieder einen Krampfanfall hatte.

Aber nur einen kleinen, sehr kurzen. Trotzdem…es war furchtbar.

Immerhin…wir hatten nun zum ersten Mal einen Krampfanfall von Jonathan aufzeichnen können. Und so erfuhren wir später im Gespräch mit der Neurologin einige wichtige Dinge.

Zum einen das der Anfall sich angekündigt hat. Anhand der Hirnströme konnte man eindeutig sehen dass sich etwas „aufbaute“. Das brachte uns im täglichen Leben aber gar nichts! Denn Jonathan war zu Hause ja nicht permanent am EEG angeschlossen.
Zum anderen aber erklärte uns die Neurologin das Jonathan einen „vokalen“ Anfall gehabt habe. Ein epileptischer Anfall ist im Endeffekt eine Entladung von Energie. Und bei Jonathan hatte sich diese Energie nur in einem kleinen Bereich des Gehirns (also vokal) entladen. Dieser Bereich…war NICHT das Bewusstseinszentrum gewesen. Und das bedeutete…das Jonathan den Anfall bei vollem Bewusstsein miterlebt und mitbekommen hatte – ohne das er etwas dagegen tun konnte.

Als ich schon Tränen in den Augen hatte bei der Vorstellung was Jonathan da wohl durchgemacht hatte erklärte die Neurologin dass ein Epileptiker IMMER dieselbe Art von Anfällen habe. Und wenn Jonathan jetzt einen vokalen Anfall gehabt habe, dann habe er Anfälle immer in dieser Art. Also sollten wir uns beim nächsten Mal vor Augen führen das er alles bewusst miterlebte, sollten ihm sagen das alles wieder gut würde – das er einen Anfall habe – das es dasselbe sei wie Bauchweh und vorüber gehe – wir würden einen Arzt rufen der ihm helfen könnte.

Mein Verhalten während seines Anfalls, ihn anzusehen und heulend wegzurennen, hatte ihm vermutlich noch VIEL MEHR Angst gemacht. Ich hatte es in diesem Moment einfach nicht besser gewusst…aber als ich nun erfuhr das ich mein eigenes Kind noch mehr verängstigt hatte als es das sowieso schon war….das war so schlimm für mich. Da liefen ein paar Tränen.

Überhaupt waren die Tage im Kreiskrankenhaus für MICH die Hölle.

Wir hatten dort ein Einzelzimmer bekommen damit Jonathan sich ausruhen konnte und auch nicht mit Keimen/Bakterien der anderen Kinder in Kontakt kam. Aber das Zimmer….war im Endeffekt mehr eine Abstellkammer. Winzig klein, mit alten Möbeln die quasi den kompletten Platz einnahmen so dass man sich hier nicht bewegen konnte.

Am ersten Nachmittag dort…heulte ich wie ein Schlosshund und sagte nur immer wieder: „Ich kann hier nicht bleiben, ich bekomme hier keine Luft!“. Zum Glück ist mein Mann sehr viel härter im Nehmen als ich: er blieb bei Jonathan und ich pendelte zwischen Pension und Klinik.

Außerdem war es natürlich einfach fürchterlich nach über 2 Jahren wieder in der Situation „Krampfanfall“ zu sein.
Damals hatte ich SO LANGE gebraucht um meine Angst zu verlieren das es wieder passieren könnte. Wochenlang hatte Jonathan bei uns im Bett geschlafen, in meinem Arm…weil ich Angst hatte.

Und nun waren wir wieder in dieser Situation angekommen.

Ja: ich weiß…es gibt so viele Epileptiker. Und es gibt so viele die jeden Tag Anfälle haben, mehrere unter Umständen.
Aber jeder Mensch hat etwas das er NICHT ertragen kann – und bei mir sind es epileptische Anfälle. Ich ertrage alles für und mit Jonathan: Medikamente, Blutabnehmen, Untersuchungen, Operationen – kann den Ärzten assistieren und viel sehen. Aber einen epileptischen Anfall…halte ich nicht aus. Das ist Höchststrafe für mich.

Nun ja, um das Thema abzukürzen: Jonathan hatte keinen weiteren Anfall mehr und nach drei Tagen wurden wir freitags entlassen. Und sollten eigentlich zurück in die Kinderorthopädie gehen.

Doch wir telefonierten mit der Orthopädie und teilten ihnen mit (wir fragten gar nicht, wir stellten fest!) das wir am Wochenende mit Jonathan in unserer Pension und nicht in der Klinik wohnen würden. An diesem Wochenende war ein Besuch meiner Eltern bei uns geplant und natürlich würden sie Marvin mitbringen. Das wollten wir genießen: abschalten, runterkommen, verarbeiten.

Und genau das haben wir am Wochenende gemacht. Allerdings etwas anders als geplant weil Marvin krank wurde: er bekam eine Bronchitis.

Aber wir saßen zusammen, redeten, schauten fern. Bestellten uns Pizza. Und es war ein bisschen wie gemeinsamer Urlaub.

Doch montags mussten wir wieder in die Klinik und mit den Ärzten darüber sprechen wie es weitergehen sollte.

Nachdem Jonathan am Wochenende so entspannt und fröhlich gewirkt hatte gab es für MICH überhaupt keine Alternative: wir würden mit Jonathan in der Pension bleiben und die Behandlung ambulant fortsetzen. Aus orthopädischer Sicht war die Behandlung abgeschlossen, lediglich der Gips musste „gesandwicht“ (also aufgetrennt) werden damit die Orthesenanprobe beginnen konnte. Und DIE konnten wir nun wahrlich auch ambulant machen.

Das sahen die Ärzte zum Glück genauso.
Überhaupt muss ich sagen…dass sie alle SEHR GESCHOCKT waren von den Entwicklungen. Die Betroffenheit darüber das Jonathan so einen schlimmen Krampfanfall gehabt hatte war groß.

Vielleicht war die Betroffenheit AUCH deswegen so groß weil es genau das war wovor ich nach dem ersten Aufenthalt in meiner Beschwerde gewarnt hatte!! Stress und tagelanges Schreien war für Jonathan gefährlich.

Klar HÄTTE ich nun darauf herumreiten können nach dem Motto „Ich habe es Ihnen ja gesagt!“….aber ich habe das NICHT gemacht. Warum auch? Ich denke das jeder es auch so verstanden hatte…..

Das Einzige WAS ich erwähnte war eine Aussage der Neurologin: „Jeder Krampfanfall kann bei einem Kind wie Jonathan (der schon Hirnfehlbildungen hat) zum Tod führen.“ Und um an der Stelle nichts zu riskieren würden wir nicht in die Klinik zurückgehen und Jonathan noch mehr Stress aussetzen.

Soweit, so gut…
Wir zogen also um mit dem kleinen Mann und bekamen jeden Tag einen Termin zur Physiotherapie und einen zur Orthesenanprobe.

Womit wir nur NICHT gerechnet hatten:
Dass Jonathan sich in der Pension nun nachts genauso in Rage brüllte wie in der Klinik. Lag es daran weil sein Bruder nicht mehr dabei war? Registrierte der kleine Mann dass das hier KEIN Urlaub war?

Keine Ahnung. Es war jedenfalls SCHLIMM. RICHTIG SCHLIMM.
In einer Nacht hat Jonathan nur 1,5 Stunden geschlafen – und die nicht mal am Stück. Den Rest der Nacht hat er gebrüllt.
Und mein Mann und ich fingen auch irgendwann an uns gegenseitig zu beschimpfen. Der Druck der auf uns lastete war einfach zu hoch….das permanente Schreien…und die Angst das Jonathan wieder einen Anfall bekommen könnte.

Nach dieser Nacht waren wir alle fix und fertig.

Die nächste Nacht…begann genauso schlimm. Sobald es Zeit war schlafen zu gehen ging bei Jonathan die Sirene an. Aber wie!!
Diesmal haben wir nicht gezögert - wir konnten nicht mehr anders vor Angst. Wir haben im Kreiskrankenhaus angerufen und gefragt ob wir kommen können, ob sie Jonathan helfen damit er zur Ruhe findet.

Und dann sind wir hingefahren.

Wir fragten nach Beruhigungsmitteln….
Beruhigungsmittel? Bei einem so kleinen Kind? Diazepam? In welcher Dosierung? Die Ärztin wollte erst Rücksprache mit der Neurologin halten und die war jetzt nicht zu erreichen. Aber sie würde uns morgen im Laufe des Tages anrufen.

Okay, mehr war wohl nicht zu machen. Wir setzten uns also wieder ins Auto um zurückzufahren.
Kaum waren wir ein paar Kilometer gefahren sagte mein Mann: „Er ist eingeschlafen. Der Tank ist voll. Fahr Frau….fahr einfach, egal wohin – Hauptsache er schläft!“

Und ich bin gefahren. Bis München und zurück. Über 200 Kilometer.

Am nächsten Tag bekamen wir Diazepam in einer sehr geringen Dosierung. Naja, was soll ich sagen?
Es hat nicht gewirkt. Jonathan schrie trotz des Medikamentes weiterhin die Nächte durch.

WIR fuhren in den Nächten Auto. Damit er schlief und sich erholte.

Ich wusste dass wir dringend nach Hause mussten. DRINGEND. Jonathan brauchte sein gewohntes Umfeld, seinen Bruder. Aber die Orthesen waren noch nicht fertig.

…unser Kinderarzt hat mir vor längerer Zeit mal ein Kompliment gemacht. Er hat so in etwa gesagt:
„Wie Sie dieses Leben meistern und dabei trotzdem noch so viel lachen….Sie sind SO UNGLAUBLICH STARK. Andere hätten schon mehrfach heulend hier bei mir gestanden und SIE…lächeln einfach und packen es an. Sie haben das Talent in dieser Situation NUR das positive zu sehen und nutzen es FÜR SICH. Ich habe das Gefühl das man Ihnen noch zusätzliche 20 Kilo auf die Schultern legen kann und Sie brechen trotzdem nicht zusammen!“
…ja…vielleicht hat er ein stückweit Recht mit dieser Einschätzung….
Jedenfalls schrieb ich ihm nun eine E-Mail:
„Ich fühle mich als hätte ich aktuell MEHR als 20kg zusätzlich auf den Schultern. Ich bin am Limit angekommen: ich kann nicht mehr.“

An einem Abend sagte ich zu meinem Mann dass ich jetzt einfach ins Auto steige und nach Hause fahre, ihn und Jonathan allein in der Pension lassen werde.
…was ich natürlich nicht gemacht habe! Aber ich hätte es so sehr gewollt….
Das alles…diese gesamte Situation war einfach der HORROR schlechthin.

Für uns alle.