Meine
Angst vor einer „nekrotisierenden Enzephalitis“ bei Jonathan stand im Raum.
Ich
wusste gar nicht richtig ob ich es gut oder schlecht finden sollte dass die
Neurologin (die uns im Kreiskrankenhaus betreute) mich ernst nahm und mir
Fragen über den Krankheitsverlauf bei der kleinen Lotta stellte. Irgendwie
hätte ich wohl in diesem Moment lieber gehört: „Machen Sie sich nicht verrückt,
das kann es auf KEINEN FALL sein!“. Aber das sagte sie erstmal nicht.
Allerdings
erklärte sie mir dass man bei Jonathan nun ein EEG schreiben würde – in erster
Linie um herauszufinden ob der Krampfanfall das Gehirn in Mitleidenschaft
gezogen habe. Sollte Jonathan aber an einer Hirnhautentzündung oder einer
Meningitis leiden und DAS der Grund für den Krampf gewesen sein: dann würde man
das am EEG sehen können. In beiden Fällen seien die Ausschläge ganz spezifisch.
Das
wusste ich bis dahin noch nicht. Aber das beruhigte mich! Denn in wenigen
Minuten wüssten wir mehr….
Die
Elektroden wurden angeschlossen, Jonathan schlief. Man begann das EEG zu
schreiben und auch eine Kamera wurde aufgebaut um währenddessen ein Video von
Jonathan zu drehen das dann bei der Auswertung helfen sollte. Ich unterhielt
mich mit der Neurologin, als…Jonathan schon wieder einen Krampfanfall hatte.
Aber nur
einen kleinen, sehr kurzen. Trotzdem…es war furchtbar.
Immerhin…wir
hatten nun zum ersten Mal einen Krampfanfall von Jonathan aufzeichnen können. Und
so erfuhren wir später im Gespräch mit der Neurologin einige wichtige Dinge.
Zum einen
das der Anfall sich angekündigt hat. Anhand der Hirnströme konnte man eindeutig
sehen dass sich etwas „aufbaute“. Das brachte uns im täglichen Leben aber gar
nichts! Denn Jonathan war zu Hause ja nicht permanent am EEG angeschlossen.
Zum anderen
aber erklärte uns die Neurologin das Jonathan einen „vokalen“ Anfall gehabt
habe. Ein epileptischer Anfall ist im Endeffekt eine Entladung von Energie. Und
bei Jonathan hatte sich diese Energie nur in einem kleinen Bereich des Gehirns (also
vokal) entladen. Dieser Bereich…war NICHT das Bewusstseinszentrum gewesen. Und
das bedeutete…das Jonathan den Anfall bei vollem Bewusstsein miterlebt und
mitbekommen hatte – ohne das er etwas dagegen tun konnte.
Als ich
schon Tränen in den Augen hatte bei der Vorstellung was Jonathan da wohl
durchgemacht hatte erklärte die Neurologin dass ein Epileptiker IMMER dieselbe
Art von Anfällen habe. Und wenn Jonathan jetzt einen vokalen Anfall gehabt
habe, dann habe er Anfälle immer in dieser Art. Also sollten wir uns beim
nächsten Mal vor Augen führen das er alles bewusst miterlebte, sollten ihm
sagen das alles wieder gut würde – das er einen Anfall habe – das es dasselbe sei
wie Bauchweh und vorüber gehe – wir würden einen Arzt rufen der ihm helfen
könnte.
Mein
Verhalten während seines Anfalls, ihn anzusehen und heulend wegzurennen, hatte
ihm vermutlich noch VIEL MEHR Angst gemacht. Ich hatte es in diesem Moment einfach
nicht besser gewusst…aber als ich nun erfuhr das ich mein eigenes Kind noch
mehr verängstigt hatte als es das sowieso schon war….das war so schlimm für
mich. Da liefen ein paar Tränen.
Überhaupt
waren die Tage im Kreiskrankenhaus für MICH die Hölle.
Wir
hatten dort ein Einzelzimmer bekommen damit Jonathan sich ausruhen konnte und
auch nicht mit Keimen/Bakterien der anderen Kinder in Kontakt kam. Aber das
Zimmer….war im Endeffekt mehr eine Abstellkammer. Winzig klein, mit alten
Möbeln die quasi den kompletten Platz einnahmen so dass man sich hier nicht
bewegen konnte.
Am ersten
Nachmittag dort…heulte ich wie ein Schlosshund und sagte nur immer wieder: „Ich
kann hier nicht bleiben, ich bekomme hier keine Luft!“. Zum Glück ist mein Mann
sehr viel härter im Nehmen als ich: er blieb bei Jonathan und ich pendelte zwischen
Pension und Klinik.
Außerdem
war es natürlich einfach fürchterlich nach über 2 Jahren wieder in der
Situation „Krampfanfall“ zu sein.
Damals
hatte ich SO LANGE gebraucht um meine Angst zu verlieren das es wieder
passieren könnte. Wochenlang hatte Jonathan bei uns im Bett geschlafen, in
meinem Arm…weil ich Angst hatte.
Und nun
waren wir wieder in dieser Situation angekommen.
Ja: ich
weiß…es gibt so viele Epileptiker. Und es gibt so viele die jeden Tag Anfälle
haben, mehrere unter Umständen.
Aber
jeder Mensch hat etwas das er NICHT ertragen kann – und bei mir sind es epileptische
Anfälle. Ich ertrage alles für und mit Jonathan: Medikamente, Blutabnehmen,
Untersuchungen, Operationen – kann den Ärzten assistieren und viel sehen. Aber
einen epileptischen Anfall…halte ich nicht aus. Das ist Höchststrafe für mich.
Nun ja,
um das Thema abzukürzen: Jonathan hatte keinen weiteren Anfall mehr und nach
drei Tagen wurden wir freitags entlassen. Und sollten eigentlich zurück in die
Kinderorthopädie gehen.
Doch wir
telefonierten mit der Orthopädie und teilten ihnen mit (wir fragten gar nicht,
wir stellten fest!) das wir am Wochenende mit Jonathan in unserer Pension und
nicht in der Klinik wohnen würden. An diesem Wochenende war ein Besuch meiner
Eltern bei uns geplant und natürlich würden sie Marvin mitbringen. Das wollten
wir genießen: abschalten, runterkommen, verarbeiten.
Und genau
das haben wir am Wochenende gemacht. Allerdings etwas anders als geplant weil Marvin
krank wurde: er bekam eine Bronchitis.
Aber wir
saßen zusammen, redeten, schauten fern. Bestellten uns Pizza. Und es war ein
bisschen wie gemeinsamer Urlaub.
Doch
montags mussten wir wieder in die Klinik und mit den Ärzten darüber sprechen
wie es weitergehen sollte.
Nachdem
Jonathan am Wochenende so entspannt und fröhlich gewirkt hatte gab es für MICH
überhaupt keine Alternative: wir würden mit Jonathan in der Pension bleiben und
die Behandlung ambulant fortsetzen. Aus orthopädischer Sicht war die Behandlung
abgeschlossen, lediglich der Gips musste „gesandwicht“ (also aufgetrennt) werden
damit die Orthesenanprobe beginnen konnte. Und DIE konnten wir nun wahrlich
auch ambulant machen.
Das sahen
die Ärzte zum Glück genauso.
Überhaupt
muss ich sagen…dass sie alle SEHR GESCHOCKT waren von den Entwicklungen. Die
Betroffenheit darüber das Jonathan so einen schlimmen Krampfanfall gehabt hatte
war groß.
Vielleicht
war die Betroffenheit AUCH deswegen so groß weil es genau das war wovor ich nach
dem ersten Aufenthalt in meiner Beschwerde gewarnt hatte!! Stress und
tagelanges Schreien war für Jonathan gefährlich.
Klar HÄTTE
ich nun darauf herumreiten können nach dem Motto „Ich habe es Ihnen ja gesagt!“….aber
ich habe das NICHT gemacht. Warum auch? Ich denke das jeder es auch so verstanden
hatte…..
Das
Einzige WAS ich erwähnte war eine Aussage der Neurologin: „Jeder Krampfanfall
kann bei einem Kind wie Jonathan (der schon Hirnfehlbildungen hat) zum Tod
führen.“ Und um an der Stelle nichts zu riskieren würden wir nicht in die
Klinik zurückgehen und Jonathan noch mehr Stress aussetzen.
Soweit,
so gut…
Wir zogen
also um mit dem kleinen Mann und bekamen jeden Tag einen Termin zur
Physiotherapie und einen zur Orthesenanprobe.
Womit wir
nur NICHT gerechnet hatten:
Dass Jonathan
sich in der Pension nun nachts genauso in Rage brüllte wie in der Klinik. Lag
es daran weil sein Bruder nicht mehr dabei war? Registrierte der kleine Mann dass
das hier KEIN Urlaub war?
Keine
Ahnung. Es war jedenfalls SCHLIMM. RICHTIG SCHLIMM.
In einer
Nacht hat Jonathan nur 1,5 Stunden geschlafen – und die nicht mal am Stück. Den
Rest der Nacht hat er gebrüllt.
Und mein
Mann und ich fingen auch irgendwann an uns gegenseitig zu beschimpfen. Der
Druck der auf uns lastete war einfach zu hoch….das permanente Schreien…und die
Angst das Jonathan wieder einen Anfall bekommen könnte.
Nach
dieser Nacht waren wir alle fix und fertig.
Die
nächste Nacht…begann genauso schlimm. Sobald es Zeit war schlafen zu gehen ging
bei Jonathan die Sirene an. Aber wie!!
Diesmal
haben wir nicht gezögert - wir konnten nicht mehr anders vor Angst. Wir haben
im Kreiskrankenhaus angerufen und gefragt ob wir kommen können, ob sie Jonathan
helfen damit er zur Ruhe findet.
Und dann
sind wir hingefahren.
Wir
fragten nach Beruhigungsmitteln….
Beruhigungsmittel?
Bei einem so kleinen Kind? Diazepam? In welcher Dosierung? Die Ärztin wollte
erst Rücksprache mit der Neurologin halten und die war jetzt nicht zu
erreichen. Aber sie würde uns morgen im Laufe des Tages anrufen.
Okay, mehr
war wohl nicht zu machen. Wir setzten uns also wieder ins Auto um zurückzufahren.
Kaum waren
wir ein paar Kilometer gefahren sagte mein Mann: „Er ist eingeschlafen. Der
Tank ist voll. Fahr Frau….fahr einfach, egal wohin – Hauptsache er schläft!“
Und ich
bin gefahren. Bis München und zurück. Über 200 Kilometer.
Am nächsten
Tag bekamen wir Diazepam in einer sehr geringen Dosierung. Naja, was soll ich
sagen?
Es hat
nicht gewirkt. Jonathan schrie trotz des Medikamentes weiterhin die Nächte
durch.
WIR
fuhren in den Nächten Auto. Damit er schlief und sich erholte.
Ich wusste
dass wir dringend nach Hause mussten. DRINGEND. Jonathan brauchte sein gewohntes
Umfeld, seinen Bruder. Aber die Orthesen waren noch nicht fertig.
…unser
Kinderarzt hat mir vor längerer Zeit mal ein Kompliment gemacht. Er hat so in
etwa gesagt:
„Wie Sie
dieses Leben meistern und dabei trotzdem noch so viel lachen….Sie sind SO UNGLAUBLICH
STARK. Andere hätten schon mehrfach heulend hier bei mir gestanden und SIE…lächeln
einfach und packen es an. Sie haben das Talent in dieser Situation NUR das
positive zu sehen und nutzen es FÜR SICH. Ich habe das Gefühl das man Ihnen
noch zusätzliche 20 Kilo auf die Schultern legen kann und Sie brechen trotzdem
nicht zusammen!“
…ja…vielleicht
hat er ein stückweit Recht mit dieser Einschätzung….
Jedenfalls
schrieb ich ihm nun eine E-Mail:
„Ich
fühle mich als hätte ich aktuell MEHR als 20kg zusätzlich auf den Schultern.
Ich bin am Limit angekommen: ich kann nicht mehr.“
An einem
Abend sagte ich zu meinem Mann dass ich jetzt einfach ins Auto steige und nach
Hause fahre, ihn und Jonathan allein in der Pension lassen werde.
…was ich
natürlich nicht gemacht habe! Aber ich hätte es so sehr gewollt….
Das alles…diese
gesamte Situation war einfach der HORROR schlechthin.
Für uns
alle.